Bonns Celsianer trotzen dem Virus
Auch während Corona: Gemeinsam statt einsam

Die Balkon-Aktionen der Celsianer. | Foto: Ute Wollersheim.
  • Die Balkon-Aktionen der Celsianer.
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Bonn - (we) „Leave no one behind“, also Niemanden zurücklassen,
fordern in diesen Tagen viele humanitäre Organisationen die
Öffentlichkeit zum Mittun auf. In erster Linie geht es dabei darum,
in Not geratene Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen nicht zu
vergessen.

In Corona-Zeiten springt allerding der Funke von „leave no one
behind“ sehr rasch auf solche Menschen über, die auf der Flucht vor
dem Virus in ihrem persönlichen Umfeld seelisches und körperliches
Leid erfahren. Neben den Dingen des Alltags wie dem Einkaufen von
Lebensmitteln oder dem obligatorischen Arztbesuch ist es das Gefühl
des Alleinseins, der Einsamkeit, was Menschen leiden lässt. Der
Shutdown mit dem Verzicht auf soziale Kontakte macht das soziale Wesen
„Mensch“ einfach krank.

Nur, was kann man dagegen tun, wenn die Enkel nicht ihre Großeltern,
die Kinder nicht ihre Mütter und die Freunde nicht ihre Favourites
sehen, anfassen und sprechen können? Bevor die Pharmaindustrie mit
ihren hilfreichen Tabletten die Seele zu kurieren versucht, ist
menschliche Initiative gefragt.

Die gibt es etwa in Bonns Celsiusstraße. Dort gibt es seit zwei
Jahren eine vom Caritas betriebene Wohnanlage, in der sich nicht nur
zwei Gruppen mit je acht Demenzkranken zusammen finden, sondern mit
ihnen alle Mieter der 59 weiteren 1- und 2-Zimmer-Appartements und die
Patienten der Tagespflege. „Ein Miteinander von 18 Nationen ist hier
entstanden, Jung und Alt nehmen einander an und leben tolerant und
achtsam eben nicht aneinander vorbei“, berichtet
Projektkoordinatorin Ute Wollersheim. Was kann man denn konkret tun,
wenn Corona den Alltag beherrscht, Angst und Unsicherheit Platz
greifen und man nicht weiß, was der Folgetag an Schreckensmeldungen
bereit hält?

„Seit dem 23. März wurden hier Gemeinsamkeiten gegen die
Einsamkeit, das Ausgeschlossensein, die Abgeschiedenheit gefahren“
erzählt Ute Wollersheim. „Die Menschen versammelten sich täglich
um 19.30 Uhr auf ihren Balkonen. Eine Mieterin spielte das Horn. Alle
anderen sangen mit. Man betete gemeinsam, winkte sich von den Balkonen
aus zu. Und verabschiedete sich voneinander auf den Balkonen zur guten
Nacht. Viele Nachbarn aus dem benachbarten Wohngebiet kamen, um sich
zu beteiligen. Eine WhatsApp-Gruppe hält sich bis heute auf dem
neuesten Stand. Eine türkische Mitbewohnerin, die kein Wort Deutsch
spricht, hat per WhatsApp Anschluss an die Gemeinschaft gefunden.

Heute, nach einigen Corona-Lockerungen, heißt die Gemeinschaft „Die
Celsianer“. Die machen einmal wöchentlich, immer mittwochs ab 18.30
Uhr, von sich reden. Gabriele Müller, die in der Anlage wohnt,
erzählt: „Ich selbst spiele Horn, ich habe bei unseren Treffs zum
Beispiel das Ave Maria oder die Ode an die Freude oder auch mal ein
Jagdsignal geblasen. Die Balkonzusammenkünfte haben Gemeinsamkeit
geschaffen. Ich habe die Mitbewohner zum Mitsingen animiert, ihnen
zuvor die Liedtexte per WhatsApp zukommen lassen.“ Und heute, nach
einer abgeklungenen Erkrankung von Gabriele Müller, machen sie
weiter. Unten im Atrium der Anlage.

„Mal erzählt ein Mitbewohner von der Kultur seines Heimatlandes,
mal singen wir zusammen, mal bringt eine russische Mitbewohnerin
einige Chorsänger mit. Und so sorgen wir dafür, dass niemand
ausgegrenzt wird. Übrigens auch die Wohngruppen mit den Demenzkranken
nicht.“Die Tagespflege in der Anlage ist wieder geöffnet. Während
des Shutdowns haben die Mitarbeiterinnen ihre Patienten zuhause
aufgesucht und dafür Sorge getragen, dass diese Menschen nicht
seelischen oder wie so häufig auch körperlichen Schaden nahmen. Eine
Mitbewohnerin hat einen Einkaufsservice für ältere Mitbewohner
initiiert. Zwei junge Frauen gehen einkaufen für die Älteren.

So ist seit 2018 eine verschworene Gemeinschaft entstanden, die die
wohl größte Geißel des Alters erfolgreich bekämpft: Die
Einsamkeit. Die Aktionen der Celsianer werden selbst Corona
überdauern: Es gibt arabische Abende, gemeinsame Feste, Deutschkurse,
Kochgruppen, eine Jiu-Shin-Jyutsu-Truppe, immer wieder Gelegenheiten,
miteinander in Kontakt zu treten. Selbstverständlich aktuell unter
Beachtung aller Corona-Vorgaben.

Es sind dauerhafte Freundschaften entstanden unter den Bewohnern und
mit der Nachbarschaft in den Wohngebieten nebenan. „Viele gehen auch
ins Nachbarschaftszentrum Brüser Berg“ erzählt Ute Wollseifen.

„Man akzeptiert einander, übt Toleranz, ist achtsam, kurz, man
fühlt sich wohl bei uns“, verabschiedet sich die Koordinatorin der
Wohnanlage Celsiusstraße.

Die Celsianer halten zusammen und geben sich Halt, Freundschaft und
Nähe. Ob Corona oder nicht.

Redakteur/in:

RAG - Redaktion

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