Massenhaftes Kinderleid
"Verschickungskinder" gesucht
Region - Zwischen den 1950er und 1990er Jahren wurden in Westdeutschland
zwischen acht und zwölf Millionen Kinder im Alter von zwei bis zehn
Jahren auf kinderärztliches Anraten und auf Kosten der Krankenkassen
ohne Eltern zur „Erholung“ verschickt. Während der meist
sechswöchigen Aufenthalte an der See, im Mittelgebirgsraum oder im
Hochgebirge sollten die Kinder „aufgepäppelt“ werden.
Tatsächlich erlebten sie dort jedoch oft Unfassbares: Demütigungen,
physische Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch.
Betroffene leiden noch heute an den Folgen der erlittenen Traumata.
Detlef Lichtrauter ist der Landeskoordinator NRW der „Initiative
Verschickungskinder“, einer Initiative, die 2019 von Anja Röhl
gegründet wurde, und 1. Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung
Kinderverschickungen NRW“. Bei der Suche nach ehemaligen Betroffenen
hat Lichtrauter die Rheinischen Anzeigenblätter um Mithilfe gebeten.
Denn auch im großen Verbreitungsgebiet unserer Wochenblätter im
Rheinland dürften viele Menschen leben, die zu den mehr als acht
Millionen Kindern zählen, die zwischen 1948 und dem Ende der 1980-er
Jahre in der damaligen Bundesrepublik Deutschland auf sogenannte
Kinderkuren verschickt wurden.
Die Kinder waren zwischen zwei und vierzehn Jahren alt. Die in der
Regel sechs- bis achtwöchigen Kuren wurden von Ärzten verschrieben.
Dies zumeist ohne nachvollziehbare medizinische Begründung, berichtet
Lichtrauter. Finanzierer dieser Kuren waren Kranken- oder
Rentenversicherung.
Was der Erholung dienen sollte, mündete für viele Kinder in
Stresssituationen. Neben der wochenlangen Trennung von den Eltern
erlitten sie dort Misshandlungen, unter anderem Esszwang,
Toilettenverbot, körperliche Strafen, Demütigungen und
Erniedrigungen.
Der 60-Jährige Detlef Lichtrauter ist selbst Betroffener. „Ich war
1973 als 12-Jähriger im Haus Bernward in Bonn-Oberkassel. Ich habe
physische und psychische Gewalt erfahren. Uns wurden Psychopharmaka
und Spritzen mit undefinierbarem Inhalt verabreicht, es herrschte ein
aggressiver Umgangston, es gab Rede- und Toilettenverbote, Esszwang
bis hin zum Aufessen von Erbrochenem“, skizziert Lichtrauter, der in
Sevelenen am linken Niederrhein lebt, seine Erlebnisse.
Von allen Beteiligten – Eltern, Ärzten, Kostenträgern und
Heimträgern – wurden diese Misshandlungen jahrzehntelang ignoriert.
„Wir haben es uns als ausnahmslos ehemalige Verschickungskinder zur
ehrenamtlichen Aufgabe gemacht, einen gesellschaftlichen Diskurs über
das widerfahrene massenhafte Leid, die Anerkennung, Aufarbeitung und
sorgfältige Erforschung der Geschehnisse zu führen. Es finden
Gespräche mit der Bundesregierung, Landesregierungen und Trägern der
Kinderkurheime statt, um zu erreichen, dass die Archive für die
Menschen, die zur Aufklärung des Schicksals der Verschickungskinder
beitragen wollen, geöffnet werden“, erläutert Lichtrauter. Die
Initiative möchte selbstverwaltete Anlaufstellen für Betroffene im
Bund (Berlin) und in den Ländern schaffen.
Erste Selbsthilfegruppen in NRW gibt es bereits im Ruhrgebiet, in
Köln, Wuppertal, Münster und Ostwestfalen-Lippe. „Wir bieten
ehemaligen Verschickungskindern die Möglichkeit, sich mit ihrer
Geschichte an uns zu wenden, sowie unsere Beratungshotline und andere
Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen“, informiert Lichtrauter.
Ehemalige Betroffene können sich per E-Mail unter info@akv-nrw.de
melden, oder telefonisch bei Jutta Redecker, (01520) 8562401 und
Detlef Lichtrauter, (0163) 1328215.
„Wir sind davon überzeugt, dass die Aufarbeitung der Misshandlungen
der Verschickungskinder dazu beitragen kann, in Zukunft die
Wachsamkeit gegenüber institutioneller Gewalt zu erhöhen und Kinder
sowie andere schutzbedürftige Personen stärker in den Fokus zu
rücken“, hofft Lichtrauter. Wer sich ein Bild zum Thema machen
möchte, dem empfiehlt er die Sendung „Gequält, erniedrigt,
drangsaliert“ von Report Mainz zum Thema Kinderverschickungen in der
ARD-Mediathek.
Redakteur/in:Martina Thiele-Effertz aus Hürth |
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