Ortsprägende Kastanie gefällt
Ein Baum erzählt aus seinem Leben

Hambuchen im Jahr 1912: Josef Söntgerath, Hans Müller, Anna Müller geb. Söntgerath, Elisabeth Müller und Gertrud Söntgerath (v.li.) vor ihrem Haus und der damals zwölf Jahre alten Kastanie. | Foto: Repro: Steimel
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  • Hambuchen im Jahr 1912: Josef Söntgerath, Hans Müller, Anna Müller geb. Söntgerath, Elisabeth Müller und Gertrud Söntgerath (v.li.) vor ihrem Haus und der damals zwölf Jahre alten Kastanie.
  • Foto: Repro: Steimel
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Hambuchen. In der Nacht zum Ostersonntag 2022 wurden etliche Anwohner des Dorfes Hambuchen durch einen lauten Knall geweckt. Ein Auto war ungebremst gegen eine weit über 100 Jahre alte Kastanie gefahren, ausgelöst durch einen Sekundenschlaf des Fahrers, der bei dem Unfall schwer verletzt wurde. Aber auch die Kastanie hatte gelitten. Großflächig war die Rinde beschädigt, zudem wurde das Erdreich sehr stark durch auslaufende Betriebsstoffe kontaminiert. Gutachter haben letztlich den Baum inklusive Bodenproben bewertet. Das Ergebnis: Gefahrenfällung. Zudem würde der Baum in diesem Zustand in den nächsten fünf Jahren absterben. Und so wurde vor wenigen Tagen die alte Kastanie gefällt.

Die Kastanie in voller Blüte (hier im Jahr 2014) war ein oft gewähltes Kalender- und Postkartenmotiv.  | Foto: Steimel
  • Die Kastanie in voller Blüte (hier im Jahr 2014) war ein oft gewähltes Kalender- und Postkartenmotiv.
  • Foto: Steimel

Doch bevor die Fäll-Arbeiter anrückten, hat die Kastanie unserem Kollegen quasi auf dem Sterbebett noch ihre Geschichte erzählt:

„Im Jahre 1900 wurde ich von meinen Besitzern, der Familie Söntgerath, unmittelbar vor ihrem kleinen Fachwerkhaus an der Dorfstraße aus lehm und Schotter, die von Ruppichteroth nach Much führte, gepflanzt. Als Hausbaum, so denke ich, obwohl Hausbäume damals eigentlich Linden, Walnuss- oder Birnenbäume waren. Das älteste, noch existierende Foto von mir stammt aus dem Jahr 1912, das mich mit meinen Besitzern zeigt. Hambuchen hatte zu diesem Zeitpunkt höchstens zehn Häuser. Jedes war ein Selbstversorger-Haus mit Kühen, Schweinen, Hühnern und Kaninchen, einem Misthaufen vor der Tür und einem Plumpsklo neben dem Haus - so auch bei uns.

Mein direkter Nachbar Fritz Schneider klapperte früh morgens mit den Milchkannen, die er zuerst mit seinem Pferd Mäxchen, später mit seinem Deutz-Traktor und Anhänger transportierte. Täglich holte er die Milch der Bauern, auch von den umliegenden Orten Giesselbach und Retscheroth ab und fuhr damit nach Broeleck zur Molkerei.

Natürlich habe ich auch beide Kriege erlebt, Gott sei Dank ohne Schäden. Direkt aus meiner Nachbarschaft sind jedoch zwei junge Männer - Bruno Müller und Christian Steimel - nicht mehr zurück nach Hause gekommen. Gerne hätte ich sie in Hambuchen wieder gesehen.

100 Meter von mir entfernt gab es eine Schule, eine einklassige katholische Volksschule. Schon damals haben alle Kinder meine Früchte, die Kastanien, gesammelt und damit gebastelt. In den vielen Jahren sind es ganz bestimmt einige tausend Kinder gewesen. 100 Meter in die andere Richtung gab es ein Gasthaus, Hücker hieß der Besitzer. Angegliedert war ein Tante-Emma-Laden, in dem man das Nötigste, was man nicht selbst in Stall und Garten hatte, kaufen konnte.

Auch Karneval habe ich miterlebt. 1939 sogar mit einem Umzug, der unmittelbar an mir vorbeiführte. Zwei Wagen hatte man geschmückt, organisiert von den Männern des „Männern Gesangverein Hambuchen“. Auch Kinder haben sich Jahre danach auf den Weg gemacht, kostümiert von Haus zu Haus zu ziehen. Der MGV hat im Ort immer wieder für Unterhaltung gesorgt, ob Festumzug zum Festzelt oder ein Fußballturnier. Die Fototermine waren immer in meiner Nähe, gegenüber auf der Böschung.

Sie sehen liebe Leser, es war ein bewegtes Leben, was sich unter meiner riesigen Baumkrone abspielte. Natürlich hat sich mein Besitzer auch schonmal beschwert, musste er doch in jedem Jahr gleich viermal zu Besen und Rechen greifen, um meine Blüten, meine Stachelkugeln, meine Früchte und zuletzt meine großen Blätter zu beseitigen. Nun denn, jetzt ist meine Zeit abgelaufen, der Schaden ist so groß, dass ich nicht überleben kann - et wor schüün bei üch in Hoomböchen“.

Binnen zwei Stunden war das imposante Erscheinungsbild unserer alten Kastanie dann Geschichte, als sie professionell abgetragen wurde. Ihr heutiger Besitzer will zur Erinnerung eine schöne Bank aus dem Stamm machen. Und einen letzten Wunsch hat die Kastanie unserem Kollegen dann auch noch ins Ohr geflüstert: „Behaltet mich in guter Erinnerung und sorgt dafür, das die dicke, noch ältere Eiche hundert Meter weiter gehegt und gepflegt wird, damit sie noch Jahrzehnte das Ortsbild von Hambuchen prägt“.

Freie/r Redaktionsmitarbeiter/in:

Wolfgang Steimel aus Ruppichteroth

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