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„Missbrauch in der Kirche: Täter – Opfer – Strukturen“ – Vortrag im Forum Rheinviertel

Vortragsort: Pfarrzentrum St. Marien in Bonn-Bad Godesberg
 | Foto: privat
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Im Rahmen der Vortragsreihen im Forum Rheinviertel sprach am Donnerstag, den 10. Oktober 2019 Privatdozent Dr. Wolfgang Reuter (Düsseldorf) über das Thema „Die Ver-Nichtung des Anderen. Täterdynamik und Täterprofil im traumatischen Milieu. Wie kommt es zum sexuellen Missbrauch in der Kirche?“ Die Veranstaltung fand diesmal im Pastoralen Zentrum St. Marien (Anschrift: Burgstr. 43 a, 53177 Bonn) statt. Ihr Beginn war um 19.30 Uhr.

Dr. Reuter, dessen Vortrag auf Erkenntnissen der Pastoralpsychologie basierte, war in mehrere Teile mit anschließender Diskussion gegliedert. Dabei bildeten Theologie sowie Psychoanalyse gleichermaßen den Hintergrund für die – so der Originalton – „Tiefenbohrungen“ des Referenten.

Einleitung

Referent Dr. Reuter erinnerte an den 14. Januar 2010. An diesem Tag vertrauten drei Schüler Pater Klaus Mertes SJ an, was sie am Berliner Canisius-Kolleg erlebt hatten. Was an Enthüllungen folgte, das ist inzwischen Kirchengeschichte; die Aufarbeitung dauert indes weiter an. Dr. Reuter sprach von der „Spitze eines Eisbergs“ und noch ausstehenden Konsequenzen. Auch den aktuellen Vortragsabend bezeichnete der Referent als „eine Konsequenz“ der Ereignisse. „Wir geben der Initiative der Opfer eine Resonanz“, unterstrich Reuter die Bedeutung des Abends.

Referent Dr. Reuter formulierte zu Beginn des Abends die These, dass Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt zur Vernichtung nicht nur des Anderen, sondern auch des Miteinanders führt. Darauf sollte er im Verlauf des Abends näher eingehen.

„Wer sind die Täter?“

„Wer sind die Täter?“, so lautete seine Ausgangsfrage. Dabei wurde es von Herrn Dr. Reuter als zu kurz gegriffen eingeschätzt, nur die Beziehung vom Opfer zum Täter zu analysieren; das Milieu der Täter ist laut Privatdozent Reuter relevant. Nach seinem Dafürhalten seien die Täter „in ihren Entwicklungsschritten und damit auch in ihrer Persönlichkeit schwer gestört“, schickte Dr. Reuter vorweg. Er vertrat weiter die Ansicht, dass der schwere Grad der Störung eine Tätigkeit im hochsensiblen Bereich der Seelsorge eigentlich ausschließt. Nach den Gründen für das Handeln von Tätern zu fragen, stellt laut Dr. Reuter keinerlei Entschuldigung überführter Straftäter dar; dies betonte er ausdrücklich.

Wer sind nun die Täter? Dr. Reuter stellte fest, dass „kein einheitliches Täterprofil“ vorliegt. Es gebe überall fließende Übergänge, auch in den Taten, die nicht alle strafrechtlich relevant, aber dennoch „verletzend und traumatisierend“ seien. Reuter verdeutlichte das am Beispiel eines Kaplans, der mit dem Angebot zum Judo in seinem Hobbykeller keinerlei strafrechtlich relevanten sexuellen Missbrauch beging, jedoch eine eklatante Grenzüberschreitung, obwohl Kinder und Eltern zugestimmt hatten. Die Sicht auf solche Dinge hat sich offenbar geändert.

Ein legitimes Spiel zur christlichen Wertevermittlung?

Ich denke gerade an ein Bewegungsspiel, das während der Exerzitientage einer Ordensschule, die später zum erzbischöflichen Gymnasium geworden ist, in meiner Jugend gespielt wurde. Absicht war es dabei gerade, miteinander in Kontakt zu kommen. Man reichte dabei ständig wechselnden Personen die Hände, musste die Person umarmen, bei der man zu einem Stopp-Signal im Spiel zufällig zum Stillstand kam, und in einer schwierigeren Version fasste man sich statt an den Händen gegenseitig an die Waden. Dabei im Raum waren damals pubertierende Mittelstufenschülerinnen und ein Pater. – Wie würde so etwas heute wohl bewertet?

Erschütternde Ergebnisse der MHG-Studie

Dr. Reuter sprach die erschütternden Ergebnisse der letztjährigen Missbrauchsstudie an. Es sei nötig, diese MHG-Studie in der Kirche zur Kenntnis zu nehmen und damit zu arbeiten. Es folgte eine aufschlussreiche Statistik der Studie. Der klerikale Ersttäter ist meistens im Alter zwischen 30 und 50 Jahren. Es vergehen durchschnittlich 14,3 Jahre zwischen Weihe und Ersttat, wofür Reuter einen Erklärungsansatz lieferte, der mit einer eintretenden Unzufriedenheit im Beruf zusammenhängt. Dass Homosexualität in der MHG-Studie eigens angeführt wird, bezeichnete der Referent als „diskriminierend“. Er nannte den hohen Anteil von 72 % homosexuell Veranlagter unter den Beschuldigten bzw. Tätern. Zudem weist die oben eingegrenzte Tätergruppe laut Studie eine Reihe psychsozialer Vorbelastungen auf: 36 % machten die Angabe, selbst als Kind oder Jugendlicher Missbrauchsopfer geworden zu sein. Die meisten Täter fühlten sich zur Tatzeit stark überfordert und sahen Probleme in/mit ihrer Amtsführung. Dabei spielt die Vereinsamung durch den Zölibat eine starke Rolle. Ebenso geht die große Bedeutung des Substanzmissbrauchs (Rauschmittel, Alkohol...) unter den Tätern aus der MHG-Studie hervor. Sie attestiert vielen eine mangelnde soziale Kompetenz, Defizite in der Reifung, psychische Auffälligkeiten sowie besondere Belastungen und Herausforderungen im persönlichen Leben. All dies sind laut Dr. Reuter bereits Hinweise darauf, dass diese Menschen nicht nur aus ihrer Biografie und ihrer Persönlichkeitsstruktur, sondern aus dem klerikalen Millieu heraus zu Tätern werden. Sie werden zu Tätern im Kontext mit ihrer Rolle und Funktion in der Kirche, deren Erfüllung ihnen Probleme bereitet.

Die drei Tätertypologien der MHG-Studie

Die MHG-Studie hat laut Dr. Reuter zwischen drei Tätertypologien differenziert: a) dem fixierten Typus mit einer pädophilen Präferenzstörung, b) dem narzisstisch-soziopathischen Typ sowie c) dem regressiv-unreifen Typ.

Die wenigsten Täter haben laut Dr. Reuter eine pädophile Neigung. Ob die bei diesem Typus notwendige Therapie dessen Fixierung lösen kann, sei fraglich.

Der narzisstisch-soziopathische Tätertyp vereint Dr. Reuter zufolge den Aspekt des Machtmissbrauchs mit dem des sexuellen Missbrauchs. Der sexuelle Missbrauch stelle dabei nur eine von vielen Formen des narzisstischen Machtmissbrauchs dar und stehe dabei oftmals für den Täter an untergeordneter Stelle. Mit der Machtausübung gegen den Willen anderer Personen versuche dieser Tätertypus seine Störung, aus der ein Gefühl der Minderwertigkeit resultiert, zu kompensieren.

Der regressiv-unreife Typ der Täter stellt die wohl größte Gruppe unter ihnen dar. Beschuldigte von diesem Typ weisen Untersuchungen zufolge eine Persönlichkeit mit deutlichen Defiziten auf sowie eine deutlich defizitär entwickelte sexuelle Reife. Sexuelle Reife bezeichnet dabei die Integration der Sexualität in Bezug auf die eigene Person und den adäquaten Umgang mit dem Gegenüber. „Man geht davon aus, dass die Verpflichtung zum Zölibat vielleicht dazu führen kann, eine falsch verstandene Möglichkeit zu sehen, sich mit der eigenen sexuellen Identitätsbildung nicht hinreichend auseinandersetzen zu müssen“, so Dr. Reuter. Das Priesterseminar und die durchaus geschätzte Lebensform der katholischen Priester begünstigen es dem Psychoanalytiker zufolge, sexuell unreif durchs Leben zu gehen. Während „normale“ Männer spätestens mit Anfang 20 nach einer Beziehung gefragt werden, blieben Priesteramtskandidaten hier unbehelligt, weil ihre Lebensform selbst unter kirchenfernen Menschen noch immer eine hohe Akzeptanz aufweise.

Im folgenden Abschnitt seines Vortrages ging der Referent vorrangig auf den narzisstisch-soziopathischen und den regressiv-unreifen Tätertypus ein und erläuterte deren Beweggründe im Handeln. Demnach haben die frühen Persönlichkeitsstörungen des narzisstisch-soziopathischen Typs mehrere Dimensionen. Zuerst führte Reuter die relationale Dimension an, also die Dimension, in der es um die Beziehung zu Menschen geht. Vom Beginn unseres Lebens an befinden wir uns in der Dialektik von Bindung und Trennung; beide Erfahrungen sind laut Dr. Reuter bereits vor der Geburt miteinander verbunden. Mit der Geburt erhalte der Mensch dann die lebenslange Aufgabe der Lebensgestaltung in der Dynamik von Bindung und Trennung.

„Optimale Nähe bei zugleich maximaler Abgrenzung“

„Optimale Nähe bei zugleich maximaler Abgrenzung“ ist nach Ansicht Reuters das menschliche Lebensprogramm. Von „Begegnung an der intimen Grenze zur Beziehung“ spricht der Referent hier auch. Reuter beschrieb den Triebimpuls kleiner Kinder und deren Strategie zur Befriedigung. (Ein hungriges Baby schreit.) Mit fortschreitendem Alter lerne das Kind, dass es nicht immer gleich die gewünschte Befriedigung erhalte. Seine Triebimpulstoleranz, also der tolerierte Zeitraum, in dem es keine Befriedigung des Triebs erhält, werde variabel. Um mit der Kränkung durch den nicht sofort gestillten Impuls umgehen zu können, brauche es symbolische Rituale. Hier befindet man sich nach Dr. Reuters Ausführungen in der triebdynamischen Dimension. Er erläutert weiter, dass der Mensch sich von einer in diesem Bereich gut entwickelten Stufe manchmal ein Stück weit zurückentwickle. Nach Häufigkeit und Grad einer solchen Regression zu fragen, wird im Hinblick auf missbräuchliches Verhalten relevant. Hinzu kommt nach Dr. Reuter noch die narzisstisch-selbstpsychologische Perspektive.

Ideal-Ich versus Ich-Ideal

Das kleine Kind muss laut Reuter ein Narzisst werden; um sich weiterentwickeln zu können, benötige es ein Ich-Ideal. Missbrauchstäter haben der Auffassung Dr. Reuters nach kein primär oder sekundär narzisstisch begründetes Ich-Ideal entwickelt, sondern fallen den Vorgaben eines Ideal-Ich zum Opfer, das vor allem von der Kirche gefordert wird. Als Beispiel nennt der Privatdozent die „regelmäßige Beichte [...] mit einem einzigen Ziel: Ideale zu erfüllen“. „Wenn ich aber den Idealen nachjage, verliere ich das Reale aus dem Blick“, so Dr. Reuter. Wenn man sich einem Ideal-Ich unterwerfe, dann führe das zur „Vernichtung des Selbst“. Das Selbst beinhaltet die Offenheit für verschiedene Lebenswege; dem Ich-Ideal wird Raum gegeben. Ein Ideal-Ich bezeichnet der Referent als „zwanghaft strukturiert“ und „fast depressiv motiviert“. Es vernichte den unverwechselbaren Kern des Menschen: das Selbst. (An dieser Stelle würden mich aus theologischer Sicht die Auswirkungen auf die Seele interessieren.)

„Was machen die Täter?“

„Was machen die Täter?“ – Diese Frage beantwortete der interdisziplinär versierte Referent mit Bezug auf den Psychoanalytiker Dieter Funke. Dieser äußert in seinem Buch „Die Wunde, die nicht heilen kann: Die Wurzeln des sexuellen Missbrauchs. Eine Psychoanalyse der Kirche“ dies: „Im Moment der Tatanbahnung bis zur Tatdurchführung ist es so, dass der Täter weder sein eigenes Selbst und Ich spürt [...], aber auch das Selbst des Anderen vernichtet, weil er es gar nicht wahrnimmt.“ Beide verschmölzen zu einem Selbst, und der Täter nehme daher gar nicht wahr, dass er sich an einer anderen Person gewaltsam vergeht. Das Prinzip der optimalen Nähe bei maximaler Abgrenzung ist hier laut Dr. Reuter komplett ausgeschaltet und stattdessen „ein fiktives neues Selbst“ entstanden.

Als Seelsorger nicht geeignet

Alle weiter oben genannten negativen Entwicklungen der Persönlichkeit sind Dr. Reuters Ausführungen nach Ausschlusskriterien für den Seelsorgeberuf. Im Nachfolgenden befasste sich der Referent im Licht des klerikalen Millieus mit der Frage, warum diese Personen dann Seelsorger werden. Warum werden Defizite während der Ausbildung nicht erkannt und entsprechende Maßnahmen ergriffen? Die Pastoralpsychologie sei seit Jahrzehnten mit ihrer Forderung einer Eignungsdiagnostik „meistens auf taube Ohren gestoßen“. Bis heute haben es Personen mit einer unausgereiften Persönlichkeit leicht, im Millieu der Kirche Fuß zu fassen. Der Missbrauch ereignet sich damit in einem der Millieus, die unbewusst „Tür und Tor dafür offenhalten“ (O-Ton PD Reuter). Man erfuhr im Vortrag, dass systemische Rahmenbedingungen und der jeweilige Status der Persönlichkeitsentwicklung bzw. -störung gemeinsam missbräuchliches Verhalten fördern.

„Traditionals“ – Überlieferungen zum Thema Missbrauch

Dr. Reuter hinterfrug an dieser Stelle seine eigene wissenschaftliche Profession, der man vielleicht vorschnelle Schlussfolgerungen vorwerfen könnte. Eine solche Überlegung und Fragestellung hält er für legitim. Dem stellt er jedoch die überlieferten Mythen und Geschichten entgegen, die seit Überlieferung durch Sprache in den verschiedenen Kulturen existieren. Sie erzählen laut Dr. Reuter exakt vom aktuellen Thema des Abends: davon, „dass Menschen Macht missbrauchen, „dass Menschen Menschen missbrauchen und dass Menschen Menschen auch sexuell missbrauchen“. Dr. Reuter nannte in seinem Vortrag als ein Beispiel die Oper „Rigoletto“, in der es um Machtmissbrauch und sexuellen Missbrauch geht. „Das ist nur erträglich durch die Musik von Verdi“, so der Referent.

Ein fataler Irrtum des emeritierten Papstes Benedikt

Im März 2019 ist ein Artikel des emeritierten Papstes Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, erschienen, in welchem er einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche und der sexuellen Revolution der 1960er Jahre herstellt. Nicht nur Dr. Reuter widerspricht dieser These vehement; seiner Aussage nach geht man weiter dagegen vor. Der emeritierte Papst verdrängt bei seiner Argumentation Dr. Reuters Meinung nach genau die oben erwähnten Überlieferungen zum Thema Missbrauch, die es nicht erst seit der sexuellen Revolution gibt, sondern die wohl so alt wie die Menschheit sind. Dass einem hochgebildeten Menschen, wie Joseph Ratzinger einer ist, so etwas passiert, dürfe nach Ansicht des Referenten nicht vorkommen – zumal der emeritierte Papst um den Sachverhalt wissen muss. Wenn dieser in seinem Brevier den David zugeschriebenen Psalm 51 bete, dann sei das zumindest Dr. Reuters Argumentation nach der Fall. Dieser Psalm ist nach Dr. Reuter ein Beleg für „traumatisierende Gewaltanwendung“ in biblischer Zeit. Er analysiert dann näher den Text der 1980er Einheitsübersetzung und stellt ihm die geglättete Version von 2016 gegenüber. Damit möchte er Akzentverschiebungen durch Tradierungen belegen. Um aber halbwegs beurteilen zu können, was ein biblischer Text meint, müssen meiner Ansicht nach in der historisch-kritischen Exegese weitere Übersetzungen, vor allem die ältesten verfügbaren Quellen herangezogen werden. Manche neuere Übertragung ist wieder näher am Ursprungstext als ältere Versionen. Sowohl der aktuelle Wissensstand als auch der Zeitgeist und die vom Herausgeber ins Auge gefassten Adressaten beeinflussen Formulierungen, und Redigierungen haben im deutschsprachigen Alten Testament wiederholt stattgefunden. (Zweifellos enthält die Bibel mehr als einen Beleg für Machtmissbrauch.) Dr. Reuter fuhr in seinem Vortrag fort, Papst em. Benedikt XVI. aufs Schärfste zu kritisieren. Auch meiner Ansicht nach hätte er zu den Themen Missbrauch und Sexualmoral besser schweigen sollen. Einen Dienst erwiesen hat er dem Ansehen der Kirche mit seinem Text sicher nicht. Zugute halte ich ihm jedoch, dass er in seinem stolzen Alter von 92 Jahren (* 16. April 1927) sicherlich Lebenserfahrungen und Prägungen mit sich trägt, die in unserer schnelllebigen Zeit zwangsläufig fast schon wie aus einer anderen Welt erscheinen müssen. 

Dr. Reuter sprach weiter über eine biblische Geschichte, die er dann auf kirchliche Gegebenheiten projizierte. „In der Kirche herrscht ein traumatisches Milieu, das Missbrauch fördert“, so Reuters Meinung.

Exkursion in die Traumaforschung

Der Referent konzentrierte sich hier auf Traumata, die im Kontext der näheren Umgebung (der Familie) auftreten. Unter Bezugnahme von Psychiater Dr. med. Mathias Hirsch beschrieb Reuter die Komplexität der Traumaerfahrung. Genauso verhalte es sich mit dem Missbrauchsgeschehen zwischen Geistlichen und Kindern bzw. Jugendlichen. Dr. Reuter Unterschied zwischen 1. der Prozess der Traumatisierung (= die Tat), 2. einem unbegreiflichen Zustand, 3. der bleibenden pathologische Veränderung und 4. dem Umgang mit dem Missbrauch im Milieu.

Das Beziehungstraumamilieu entsteht a) durch das Täter/Opfer–Verhältnis, b) durch die Tat und ihre Folgen für alle Beteiligten, c) durch die bleibende Wirksamkeit des Erlebten beim Opfer (vor allem dann, wenn das Opfer nicht darüber sprechen kann) sowie d) durch den Verlust des Anderen. Durch die Missbrauchstat wird dem Opfer die andere Seite des Täters (z. B. die normale Funktion des Kaplans) genommen. Es entsteht ein Vertrauensverlust durch fehlenden Schutz für das Opfer (z. B. auch durch die nicht anwesende Mutter). Das Verleugnen bzw. Verschweigen des Traumas wirkt sich wiederum negativ aus.

„Wie wird die Kirche zu einem traumaförderlichen und traumatisierenden Milieu?“

Das Erklärungsmodell des Referenten sah folgendermaßen aus: Vernichtung und Spaltung sind Dr. Reuters Urteil nach in der Kirche alltäglich. Er zählte exemplarisch fünf solcher Spaltungen auf: erstens die Spaltung zwischen ideal und real. Hier spielen das Selbstbild der Kirche und das reine, asexuelle Bild der Heiligen Familie eine große Rolle. Dieses Bild führt zum Reinheitsideal und begründet das zölibatäre Priesterideal.

Zweitens wurde die Spaltung zwischen Frauen und Männern mit ihrer Sexualfeindlichkeit, ja sogar einem Teilhabeausschluss für Frauen genannt. (Hier wurde die Aktion Maria 2.0 positiv erwähnt.)

Umso mehr als die Spaltung zwischen Männern und Frauen fördere drittens die Spaltung zwischen Klerus und Laien den Missbrauch. Die Chorschranken, die in den meisten Kirchen entfernt worden, sind in den Köpfen nach der Auffassung Dr. Reuters noch immer vorhanden. „Das Zweite Vatikanische Konzil spricht in Lumen gentium 32 einen ganz, ganz wichtigen Aspekt an, der eigentlich den Klerikalismus aus der Welt schaffen könnte“, so Dr. Reuter. (Er zitierte aus dem päpstlichen Schreiben, das unter dem oben eingefügten Link zu finden ist.) Meiner Meinung nach geben bestimmt Stellen die grundsätzliche Gleichheit von Frau und Mann, von Laien und Klerus tatsächlich wieder, aber an anderer Stelle wird mit Bezug auf die Bibel („ein Leib, viele Glieder“) eine Aufgabenteilung erwähnt, die doch wieder vorgegeben erscheint.

Der Referent berichtete weiter von einer Reform des Kirchenrechts aus dem Jahr 1983, in die das Zitat über die „wahre Gleichheit“ der Christgläubigen aus Lumen gentium (promulgiert 1964) übernommen worden ist. Dies wertete er als Wirken des Heiligen Geistes. Offenbar hoffte er an dieser Stelle auf weitere Entwicklungen, welche die Spaltungen in der Kirche aufheben. Wenn keine weiteren Veränderungen eintreten sollten, dann blickt Dr. Reuter wenig optimistisch in die Zukunft, wie man seinen nachfolgenden Forderungen entnehmen konnte, die Spaltungen verhindern sollen.

Forderungen des Referenten

  1. Die Priesterausbildung und Priesterseminare müssen reformiert werden.
  2. Laien, die als Seelsorger arbeiten, müssen mit geweihten Seelsorgern auf einer Stufe stehen. 
  3. Frauen und Männer müssen gemeinsam Kirche gestalten. 
  4. Alles, was den Klerikalismus fördert, ist zu unterbinden. 
  5. Die Spaltung, die es auf der Handlungsebene gibt, muss aufgehoben werden, indem sich das Selbstverständnis der Kirche ändert. Hier spricht vom Vorbild der „absolutistischen Monarchie“, das abzuschaffen ist.

Auf der einen Seite sieht Dr. Reuter „gut funktionierende Gemeinden“, wie er äußerte, auch in Bonn gebe es noch eine etablierte, kreative theologische Fakultät, deren Einbringen in die Diskurse der Gesellschaft er lobend hervorhob. „Und wir haben ein vermauertes Lehramt“, wie Dr. Reuter die andere Seite bezeichnete, dass uns vor Augen führe, dass die Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils erst am Anfang steht. Im Kontext mit den Äußerungen des Lehramtes in Rom zum Synodalen Weg in Deutschland sprach Dr. Reuter von „Herrschsucht“ durch Kleriker, die zwar Ehrentitel, aber keinerlei praktische Erfahrung in der Gemeindearbeit mitbringen. Als „monarchistische Oligarchie“ bezeichnete er diese Form von Kirchenstruktur.

„Die Aufrechterhaltung dieser Spaltung in der Kirche vernichtet ihre eigene Glaubwürdigkeit“, konstatierte Dr. Reuter und führte dies anhand des römisch-katholischen Umgangs mit Homosexuellen aus. Tiere und selbst Gegenstände dürfe man in der römisch-katholischen Kirche segnen, nicht aber zwei homosexuelle Menschen, die sich fest für einen gemeinsamen Lebensweg entschieden haben. Dr. Reuter resümierte noch einmal, wo kirchliches Fehlverhalten zerstörend wirkt. Er nannte es „ein Gebot der Stunde“, aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse die kirchliche Position in Bezug auf die Sexualmoral zu ändern. „Ansonsten können wir uns als Kirche endgültig verabschieden aus dem Diskurs – zumindest in dieser Angelegenheit“, so Reuters Meinung.

Den Zusammenhang zwischen der Spaltung und den verschiedenen Folgen, worunter sich auch der Einsatz ungeeigneter Persönlichkeiten und damit potenzieller Täter befindet, zeigte Dr. Reuter noch einmal klar auf.

„Gibt es einen weiteren Ausblick?“

Geht man mit Blick auf die „Traditionals“ davon aus, dass die Missbrauchsproblematik bereits so lange wie die Menschheit existiert, „dann schaffen wir es nicht, sie in zwanzig Jahren auszulöschen“, so Dr. Reuter. Auf verschiedenen Ebenen sah er jedoch die Möglichkeit zu vermitteln. Den Rückgriff auf den Ursprung des Glaubens bzw. der Kirche müsse man mit den Erfordernissen von Gegenwart und Zukunft in Einklang bringen. Struktur, Recht und Ideale müssen nach Meinung des Referenten reformiert werden. Die Prognose für ein Gelingen solcher Reformen schätzte er mäßig ein. „Dennoch brauchen wir das“, versicherte Dr. Reuter und sprach sich für eine „Pluralität des Kircheseins“ aus. Man müsse das hinterfragen, was die Kirche bisher praktiziert.

Dr. Reuter forderte explizit a) die gemeinsame Ausbildung aller pastoralen Dienste, b) die Gleichheit von Frauen und Männern in Rollen, Funktionen und Ämtern (inklusive der Weihe), c) eine zeitgemäße Sexualmoral, d) Konsequenzen für überführte Täter, e) finanzielle Entschädigung für Opfer und Wiederherstellung ihrer Würde, f) Therapie bei Opfern und Tätern sowie g) sinnvolle Prävention. Derzeit sind die Präventionsveranstaltungen nach Auskunft des Referenten – er sprach von „Präventionshysterie“ eher eine „Illusion“. „Es geht um nichts anderes, als um die Reinhaltung der Kirche“, so Dr. Reuter wörtlich. Am Ende seines Vortrages fasste der Referent den Status der Kirche in einem Satz zusammen. Sie hat demnach viel zu tun auf ihrem Weg der Nachfolge Jesu.

Weitere Stimmen zur Lage der Kirche

Was auffällt, das sind in relativ kurzer Folge erschienene Publikationen, die unmissverständliche Forderungen der Veränderung an die Kirche stellen. Dazu gehört auch das im September 2019 beim Herder-Verlag veröffentlichte Buch „Ausgeheuchelt! So geht es aufwärts mit der Kirche“ von Stefan Jürgens. Die Wahrnehmung eines Priesters in Sachen Kirche kennenzulernen ist durchaus informativ und hilfreich, wenn der Autor mit mancher Äußerung sicherlich auch Personen (z. B. in seiner ehemaligen Gemeinde) verletzt. Das Buch macht klar, dass sich an der Struktur der Kirche etwas ändern muss, wenn sie in der Zukunft lebendig bleiben will! Dem kann ich nicht widersprechen. Einige der Forderungen zur Veränderung in Stefan Jürgens’ Buch sind deckungsgleich mit denen von Dr. Wolfgang Reuter. Auch passen Beschreibungen aus dem Priesterseminar bei Jürgens zur Unreife potenzieller Täter bei Reuter.

Für diejenigen, die sich über seinen Vortrag hinaus noch eingehender mit der Thematik befassen möchten, wird es eine Vortragsreihe im Bonner Studium Universale und Publikationen zum Thema geben; dies kündigte Dr. Reuter bereits an.

Der zweite Vortrag der Herbstreihe im Forum Rheinviertel, der sich inhaltlich auf die Opfer konzentrieren sollte, muss nach jetzigem Stand wegen Krankheit der Referentin entfallen. Geplant war er für den 29. Oktober 2019. Der dritte angekündigte Abend, der das Thema „Missbrauch“ behandelt, soll am 6. Februar 2020 stattfinden. Prof. Dr. Rainer Bucher (Graz) wird dann über „Missbrauch in der Kirche: Strukturen – Verrat und Versprechen“ referieren.

(dcbp, 19.10.2019)

LeserReporter/in:

Damiana C. Bauer-Püschel aus Bonn

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