Abschlussbericht Collegium Josephinum
Wissenschaftliche Aufarbeitung des Missbrauchs
Bad Münstereifel - Das wissenschaftliche Projekt zur Aufarbeitung von sexuellem
Missbrauch, physischer und psychischer Gewalt am Konvikt Collegium
Josephinum in Bad Münstereifel hat seinen Endbericht vorgelegt. Wie
Projektleiterin Prof. Dr. Claudia Bundschuh am Mittwoch in Köln
erläuterte, hat es am Konvikt, einer 1997 aufgegebenen Einrichtung
für Jungen, mindestens seit den 1950er Jahren wiederholt Gewalt gegen
Minderjährige in unterschiedlicher Form gegeben, einige Aussagen
reichen sogar bis in die 1940er Jahre zurück.
Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass „eine vergleichsweise hohe
Zahl an Fachkräften“ ihre Macht missbraucht habe, „um die
Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse durchzusetzen. Es ist
daher berechtigt, zumindest bis in die 1970er Jahre von einem
‚System des Machtmissbrauchs‘ zu sprechen.“
Kardinal Rainer Maria Woelki: "Erfüllt mich mit großer
Trauer!"
Kölns Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, sagte bei der Vorlage
des Endberichtes: „Die Gewissheit, dass in Einrichtungen unseres
Erzbistums über viele Jahre jungen Menschen schlimmes Leid zugefügt
wurde, noch dazu auch von Priestern, gehört zu den schwersten
Erkenntnissen, mit denen ich in meinem bischöflichen Dienst umgehen
muss, und erfüllt mich mit großer Trauer.“
Das wissenschaftliche Projekt war 2015 auf Initiative von Betroffenen
gestartet worden. Oberstes Ziel war es, Ehemaligen mit
Gewalterfahrungen in ihrer jetzigen Lebenssituation hilfreich zu sein.
Das Projekt war daher so angelegt, dass die Betroffenen mit ihren
Anliegen und Interessen maßgebend für die Gestaltung des Projekts
und des Endberichts waren.
"Ein Bericht von den Betroffenen" des Missbrauchs im Konvikt
So erklärte die Autorin des Endberichts Prof. Dr. Claudia Bundschuh:
„In diesem Endbericht reden die Ehemaligen selbst. Es ist kein
Bericht über Betroffene, sondern ein Bericht von den Betroffenen.
Alle Ehemaligen mit Gewalterfahrungen kommen zu Wort. Sie leisten
damit den entscheidenden Beitrag zur Bewusstmachung der Vielfalt,
Folgen und Begünstigung von Gewalthandlungen im Konvikt.“
Finanziert wurde das wissenschaftliche Projekt, das bereits unter dem
inzwischen verstorbenen Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner
begonnen wurde, vom Erzbistum Köln.
Seit Beginn des Projektes haben rund 100 Ehemalige des Konvikts
schriftlich oder mündlich ihre Erfahrungen mitgeteilt. Das
Datenmaterial umfasste nach Abschluss der Interviewphase rund 1.000
Seiten. Die Mehrzahl der Mitwirkenden hat Gewalt erlebt oder als Zeuge
miterlebt. Diese Gruppe der Ehemaligen bewertete selbst erlebte oder
beobachtete Gewalt als dominantes Merkmal des Umgangs der Fachkräfte
mit den Jungen, das ihren Lebensalltag im Konvikt prägte.
Eine kleinere Anzahl von Mitwirkenden beschrieb altersgerechte
Fürsorge und (weitgehende) Gewaltfreiheit als zentrale Merkmale des
eigenen Aufenthalts. Diese Ergebnisse lassen keinen Schluss zu über
die tatsächliche Anzahl von Gewaltopfern im Collegium Josephinum Bad
Münstereifel und über das Verhältnis von Ehemaligen mit und ohne
Gewalterfahrungen. Sie geben jedoch hinreichend Grund zur Annahme,
dass im Umgang der Fachkräfte mit den Kindern und Jugendlichen im
Konvikt über die Jahrzehnte ein Wandel stattgefunden hat, der
Ehemaligen in der letzten Epoche des Konvikts bis zur Schließung
zugutekam. Hilfs- und Beratungsangebote, wie sie in den vergangenen
Jahren angeboten und entwickelt werden konnten, zeigten sich auch als
hilfreich bei der Bewältigung des Erlebten.
Aufarbeitung durch unabhängige Experten
Zur Qualitätssicherung wurde das Projekt begleitet von einem
Lenkungsausschuss unter der Leitung der Justitiarin des Erzbistums
Köln, Dr. Daniela Schrader. Die Beauftragung von Prof. Dr. Claudia
Bundschuh erfolgte auf Empfehlung des Arbeitsstabes des Unabhängigen
Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs,
Johannes-Wilhelm Rörig. Neben Prof. Dr. Bundschuh sowie Prof. Dr.
Werner Becker, Gisbert Schneider und einem weiteren Vertreter der
Betroffenen arbeitete Prof. Dr. Arnfried Bintig, emeritierter
Professor für Klinische und Rechtspsychologie an der
Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Fachhochschule Köln, im
Lenkungsausschuss mit. Die operative Projektleitung lag bei der
Rechtsanwältin und Mediatorin Dr. Bettina Janssen. Für das Erzbistum
Köln nahm darüber hinaus Pressesprecher Christoph Heckeley am
Ausschuss teil.
Kardinal Woelki: "Selbstkritisch prüfen, was die Verbrechen
begünstigt hat!"
Ein Anliegen vieler Betroffener war es, für ihre Situation und ihre
Erfahrungen Gehör zu finden und die Tragweite der persönlichen
Gewalterfahrungen anerkannt zu bekommen. Als weitere Wünsche wurden
sichtbare Konsequenzen aus den Erkenntnissen des Berichtes gefordert,
die sich nach Ansicht der Betroffenen in der kirchlichen Schul- und
Erziehungsarbeit, der Priesterausbildung und der Sexuallehre zeigen
müssen.
Kardinal Woelki betonte die Folgen des Berichts für die Zukunft:
„Das zu Tage gebrachte Versagen auf Seiten des schulischen und
kirchlichen Systems muss für uns Anlass dafür sein, selbstkritisch
alles zu prüfen, was die Verbrechen begünstigt hat. Solche
Verbrechen dürfen in unseren Einrichtungen nie wieder begangen
werden. Wir tun alles, sie zu verhindern.“
Sexueller Missbrauch durch sieben Fachkräfte, davon sechs
Priester
Zu den berichteten Gewalttaten zählen sexuelle Übergriffe, sexueller
Kindesmissbrauch bzw. Missbrauch von Schutzbefohlenen,
Erziehungsgewalt durch Ohrfeigen, Misshandlung zum Beispiel durch
Faustschläge und Tritte sowie durch psychische Gewalt, etwa durch
verbale Demütigungen und Abwertungen. Diese Erfahrung beeinträchtigt
manche Betroffene bis in die Gegenwart schwer. Nach ihren
Schilderungen wurden sieben Fachkräfte, die mit einer Ausnahme alle
Priester im Konvikt waren, namentlich der Ausübung von sexueller
Gewalt beschuldigt. Die Erscheinungsformen reichten von sexuellen
Übergriffen unterhalb der Strafbarkeit bis zu sexuellen Handlungen,
die nach heute geltendem Recht als sexueller Kindesmissbrauch (§ 176
StGB) beziehungsweise Missbrauch von Schutzbefohlenen (174 StGB) mit
Strafen belegt würden.
Zur geschilderten physischen Gewalt gehörten unter anderem
Misshandlungen durch Schläge mit Gegenständen oder Tritte,
Züchtigungen mit nachhaltigen Verletzungen und Erziehungsgewalt in
Form von Ohrfeigen. Hier wurden zwölf Fachkräfte namentlich
beschuldigt, vier waren Priester, einer gehörte nicht zum Personal
des Konvikts.
Keine Vorgaben und keine Kontrollen seitens des Erzbistums
Schilderungen der ehemaligen Leitungspersonen machen deutlich, dass es
seitens des Trägers, des Erzbistums Köln, keine Vorgaben für die
Erziehungs- und Bildungsmethoden der Jungen im Konvikt gab; zudem
fehlen Hinweise darauf, dass der Träger die Praxis im Konvikt
kontrolliert beziehungsweise auf der Basis von Qualitätsstandards
überprüft hätte.
Der Bericht stellt einen Bezug zu der damaligen gesellschaftlichen
Situation her, weil beispielsweise körperliche Züchtigung von
Kindern und Jugendlichen in früheren Jahrzehnten gängige oder gar
tolerierte Erziehungspraxis gewesen ist. Dies darf jedoch
ausdrücklich nicht als Entschuldigung gewertet werden: Politische
oder kulturelle Akzeptanz von Gewaltausübung hat keinen Einfluss auf
das Erleben von Gewalt. Es ist folglich psychologisch und ethisch
nicht vertretbar, Betroffenen aus früheren Zeiten unter Bezug auf
damals herrschende gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine Würdigung
ihrer Opfererfahrungen abzusprechen.
Positive Erfahrungsberichte für die 80er und 90er Jahre
Für das Verständnis der Auswirkungen von Sozialisationserfahrungen
im Konvikt sind auch die Berichte der tertiär Betroffenen eine
wertvolle Hilfe. Darunter versteht der Bericht Personen, die unter
anderem durch gesellschaftliche Reaktionen auf Gewalttaten an anderen
Personen beeinträchtigt worden sind. Ihre Schilderungen, insbesondere
mit Aufenthalt in den 1980er und 1990er Jahren, machen deutlich, dass
Erziehung und Bildung in einer Einrichtung wie dem Konvikt
zielführend ist, wenn sie den kindlichen und jugendlichen
Bedürfnissen entsprechen: Gewaltfreiheit, Zuwendung, individuelle
Förderung und Wertschätzung der kindlichen und jugendlichen
Persönlichkeit haben hier nachhaltige Auswirkungen in positiver Weise
gezeigt. Die Ausführungen der tertiär Betroffenen verdeutlichten im
Rahmen der wissenschaftlichen Aufarbeitung, dass es ehemalige Schüler
gibt, die keine körperliche und sexualisierte Gewalt im Konvikt
erfahren oder beobachtet haben.
Transparenz auch bei der Veröffentlichung der Ergebnisse
Der Endbericht zum wissenschaftlichen Projekt wird als Buch im Verlag
Katholisches Bibelwerk der Deutschen Bischofskonferenz in den Handel
kommen, um eine möglichst hohe Transparenz und Zugänglichkeit der
Ergebnisse zu sichern.
Erkenntnisse des Berichts werden in den kommenden Monaten außerdem in
verschiedenen Gremien des Erzbistums Köln vorgestellt und unter
anderem mit den Verantwortlichen in der Priesterausbildung, der Schul-
und Hochschularbeit sowie der Seelsorge diskutiert werden.
Mit dem Endbericht ist der umfangreiche Komplex an Themen und
Herausforderungen somit explizit nicht zu den Akten gelegt. Auch in
der Folge sollen Betroffene zu einer Mitwirkung an der Aufarbeitung
ermutigt werden.
Betroffene können sich weiterhin melden - Verfahren
eingeleitet
Ehemalige Konvikt-Schüler können sich per Mail an
info@pro-cj.de melden.
Auf Basis der Aussagen von Betroffenen hat das Erzbistum mehrere
Verfahren entsprechend den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz
eingeleitet. Wenn sich zusätzliche Erkenntnisse aus weiteren
Meldungen ergeben, wird das Erzbistum die Wiederaufnahme auch bereits
geschlossener Verfahren prüfen.
Weitere Informationen zum Projekt gibt es
unter www.pro-cj.de. Dort ist
auch der Endbericht online verfügbar sowie
unter www.erzbistum-koeln.de.
Der Endbericht kann in gedruckter Form bestellt werden unter
www.bibelwerk.de/abschlussbericht
Als Anlaufstelle für Betroffene, bei der es Rat und weiterführende
Informationen gibt, dient die Stabsstelle Intervention des
Erzbistums Köln unter Telefon 0221-1642-1821 sowie per
Online-Formular oder mit Hilfe der direkten Ansprechpartner, die
über die Seite
www.erzbistum-koeln.de/rat_und_hilfe/sexueller_missbrauch/kontakt/
zu erreichen sind.
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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