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Bildung mit der blonden Babsi

Ich habe mir gerade einmal in meinem SCHAUFENSTER den Veranstaltungskalender des UKB-Patientenkolloquiums 2023 angeschaut. Da gibt’s zum Beispiel im April eine Veranstaltung zum Thema "Sterbewunsch und assistierter Suizid - wo stehen wir?". Oder auch nett im September "Wie schützen und behandeln wir die verletzliche Hauptschlagader des Lebens?", "Zeitbomben oder Blindgänger - Carotisstenosen, Kavernome, Aneurysmen, Angiome oder andere Gefäßveränderungen im Kopf“ - auch ein Vortrag und "Mundschleimhautveränderungen - immer harmlos?".
Ich merke gerade, ich bin so was von, ich fühle mich so was von krank, überall zwickt es. Während ich die Themen gelesen habe, diese innere Unruhe, die sich da in mir ausgebreitet hat. Ich bräuchte jetzt dringend einen Vortrag über "Psychosomatik und Angstzustände". Von Kopf bis Fuß tut mir alles weh. Du kriegst es ja mit der Angst zu tun, wenn du die Lettern "immer harmlos?" oder "Zeitbomben" liest. Dabei hatte ich mich so was von gefreut, dass ich alte Frau zumindest einmal im Monat einen festen Termin habe, wo ich mich nach draußen aufmachen muss. Die einzige Veranstaltung, die ich mir jetzt noch zutraue, ist der Vortrag mit dem Titel "Kinderbeine - zu kurz, zu lang, zu krumm". Weil, mich betriffts nicht mehr und meine Töchter haben sich längst an ihre entstellten Beine gewöhnt. Aber natürlich frage ich mich, was da heutzutage alles möglich ist, wenn dir die Beinstellung deines Kindes nicht in den Kram passt. Früher hast du das genommen, was du bekamst.

Apropos früher, da hattest du vielleicht X-Beine. Und konntest womöglich zusätzlich nur mühsam addieren, noch schlechter subtrahieren, und das kleine Einmaleins war unerreichbar für dich. Da hat dann deine Mama mit dir ganz viel geübt, viel Zeit investiert, damit auch du es einigermaßen gebacken bekamst. Oder du standest in Mathe eben fünf. Heute gibt es die Diagnose Dyskalkulie und schwupp gibt es lerntherapeutische Unterstützung, um - wie es heißt - Mathematik neu zu erlernen. Oder Rechtschreibung: Da musstest du früher das Diktat eben nochmal üben, wenn sich da viele Fehler eingeschlichen hatten. Heute hast du die Diagnose Lese-Rechtschreib-Schwäche und schwupp wird das Thema auf eine Stunde pro Woche eingedampft. Ich hatte einmal einen Schüler, der erzählte mir sofort zu Beginn, er habe LRS. Ich darauf: "Oh, das tut mir aber leid. Da musst du ja mehr üben und arbeiten als deine Mitschüler." Darauf schaute er mich mit einem Blick an, der übersetzt sagte: "Du blöde Frau, verstehst du nicht, ich habe LRS, ich habe Zertifikat."

Aber klar, auch ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt: Hauptsache Diagnose. (Was, nebenbei, ja auch vielen Therapeuten auf diesem Planeten so was von ihr regelmäßiges Einkommen sichert.) Neulich las ich in der BARBARA, dass Katzenvideos hilfreich beim Prokrastinieren sind. Willst du noch nicht mal im Ansatz wissen, was ich da für Bilder im Kopf hatte. Auf jeden Fall nur Schweinereien. Mein Traummann wusste natürlich, um was es geht, nur ich nicht. Ich habe dann nochmal genau den Satz in der BARBARA gelesen. Und da hieß es: Wer sich Katzenvideos zum Prokrastinieren - und nicht beim Prokrastinieren - anschaut, muss kein schlechtes Gewissen wegen unerledigter Arbeit haben. Im Gegenteil: Cat-Content minimiert Stress und macht uns fröhlicher. Und es wird sogar noch besser: Studienteilnehmer, die Bilder von niedlichen Katzenbabys und Hundewelpen betrachtet hatten, erledigten Aufgaben, die konzentrierte Aufmerksamkeit erfordern, hinterher sorgfältiger. Kann im Job ja nicht schaden. Wo ich gerade dabei war, fiel mir doch zufälligerweise wieder ein alter Artikel aus meinem SCHAUFENSTER in die Hände: Gemeinsam gegen "Aufschieberitis". (Darf das heutzutage überhaupt noch so genannt werden?) Gemeinsam gegen die "Angst vorm leeren Blatt". In der langen Nacht des Schreibens können Studierende in der Universitätsbibliothek konzentriert an ihren Schreibprojekten arbeiten. Die Bonner Lange Nacht des Schreibens findet statt im Rahmen des bundesweiten Events "Die Lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten". Hallo, ist das so heute noch zulässig, solch ein Aufruf? Weil, müssen wir nicht erst einmal diagnostizieren, und da geht ja auch schon wieder die ein oder andere Sitzung beim Therapeuten ins Land. Muss nicht erst einmal in langwierigen Sitzungen geklärt werden: Bist du einfach nur stinkefaul oder kriegst du Zertifikat? Sprich, bist du am prokrastinieren am dran am tun? Ja, ich habe mich dann kundig gemacht, im Internet: Prokrastination ist die wissenschaftliche Bezeichnung für pathologisches Aufschiebeverhalten. Prokrastination ist eine ernstzunehmende Arbeitsstörung und kann sowohl private Alltagsaktivitäten als auch schulische, akademische und berufliche Tätigkeiten betreffen. Und da bin ich jetzt mal ehrlich, da bin ich raus. Muss man denn aus jedem Scheiß ein Krankheitsbild machen? Aber, wie ich schon sagte, ein Gutes hat es: Die Arbeitsplätze vieler, vieler Therapeuten sind gesichert. Weil, stell dir mal vor, die stünden jetzt auch noch alle auf der Straße.

Wo ich gerade bei den Therapeuten bin. Da tauchte neulich in den Medien die Frage auf, ob die ambulante Versorgung von psychisch schwer kranken Menschen zusammengebrochen sei. Es hieß, Psychotherapeuten behandelten bevorzugt leichte Störungen wie “Burnout”, während wirklich akut Bedürftige, wie zum Beispiel schwer depressive Menschen, zu lange warten müssten. Und es gebe Berichte, Karl Lauterbach habe die Behauptung aufgestellt, dass in der ambulanten Psychotherapie vor allem „leichte Fälle“ versorgt würden. Diese Behauptung wurde von der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) als eine „Unterstellung“ bezeichnet, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehre. Ich bin ehrlich, wenn ichs mir aussuchen könnte. Also dass ich da jetzt jeden Abend aus meiner psychotherapeutischen Praxis nach Hause gehe und hoffe, dass sich mein Patient nicht morgen vor den Zug schmeißt. Da schlaf ich aber eindeutig besser, wenn ich es mit jemandem zu tun habe, wie dem Ödön. Wenn der Ödön von Horváth jetzt in meine Praxis kommt und mir von seinem Wehwehchen erzählt, was da wäre (ich zitiere): "Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu." Hallo, da nehme ich doch lieber den.

LeserReporter/in:

Adelheid Bennemann aus Bonn

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