Fresssucht
Die, die sich selber hassen
Bonn - (we) Das Keyboard spielt den melancholischen Rhythmus. Die E-Gitarre
rotzt darüber. „Könntest du durch meine Augen seh‘n, würdest du
wie ich auch zu dir steh‘n. ... Jedes Detail an dir ist heilig, denn
genauso wie du bist bist du unvergleichlich.“ Die klare Stimme von
Batomae singt ein Lied, das er für seine Freundin geschrieben hat.
Seine Freundin heißt Jana Crämer. Jana Crämer hat die Fresssucht.
In der Aula des Heinrich-Hertz-Kollegs wird‘s still. Das Thema
berührt viele. „2014 wog ich 180 Kilo“ erzählt Jana. „Ich
hab‘ damals das Management von Batomae gemacht. Und wenn die anderen
weg waren, hab´ ich gedacht: Da ist das Schlaraffenland und hab‘
gefressen. Trotz der Schmerzen, die ich hatte. Trotz des Körpers, der
aussah wie eine Tonne. Ich habe mich gehasst, weil ich mit dem Druck
des Alltags nicht fertig geworden bin. Sicher hat das auch damit zu
tun, dass mein Vater Alkoholiker war und es dauernd Stress gab. Meine
Mutti hat bei mir geschlafen, weil wir Schiss hatten, dass was
passiert.“ Und dann eben ‚Binge Eating‘. „Ich habe bevorzugt
Olivenöl mit Zucker gegessen. Aus Selbsthass. 10.000 bis 15.000
Kalorien pro Mahlzeit. Das ist 10 x ein vollständiges Essen bei
McDonalds. Auf einmal. Und wenn ich draufgegangen wäre, wäre es mir
auch egal gewesen.“
Ihr Psychiater sagt, die Ursachen seinen ‚multifaktorell‘. Was
Jana den Schülern des Kollegs erzählt, ist ihre wahre Geschichte.
‚Das Mädchen aus der ersten Reihe‘ heißt ihr Buch, dass sie hier
per Lesung vorstellt. Und die Pop-Band Batomae hat ihre Geschichte
vertont. „Ich finde sie unvergleichlich“ eben einzigartig, sagt
Batomae (Back to me), der der beste Freund von Clara ist. Und weiß,
welch charakterliche Vorzüge die 36-Jährige hat. „Ich habe meine
geistige Heimat, mich selbst gesucht“, so Jana. Sie konnte alles
hinter sich lassen, wenn sie bei der Musik, die sie managte, vor der
Bühne stand. Die Musik hat sie alles vergessen lassen. Heue macht sie
Prävention und tourt durch die Republik. Mit großem Erfolg. Ihr Blog
ist der Renner. Und auch Batomae, der gerade an seinem ersten Album
arbeitet, schwimmt auf der Erfolgswelle. „Heute bist du nicht mehr
selbst, du bist nur für die Anderen“, meint Jana. Bei Instagram
zählt nur der Strahlemensch, stromlinienförmig. „Die Jungs kochen
sich kiloweise Nudeln noch in der Schule, nur um im Fitnessstudio
Muckis zuzulegen, egal, wie weh das tut. Die Mädchen hungern, bis
hinter ihre Taille ein DIN A 4-Blatt passt. Und kotzen ohne Unterlass.
Oder sie fressen eben.“ Zu beiden Verhaltensweisen gibt es
Internet-Foren mit entsprechenden Tipps.
„Sei du selbst und steh‘ zu dir und deinen Fehlern, du bist ein
Mensch, kein Abziehbild“, das ist die Janas Botschaft. Die Schüler
und Schülerinnen hören aufmerksam zu. „Man muss die Seele
mitwachsen lassen“, sagt Nadja, die im Bekanntenkreis auch extrem
hungernde Mädchen hat. Die eifern einem Schönheitsideal nach, dass
virtuell und künstlich ist. Reflektiert wird nicht. „Ich versuche
zu helfen, aber es ist schwierig, an die Leute heranzukommen.“
Gleiche Erfahrungen macht Alessia. „Ich versuche zu reden, wenn die
Zeit dazu ist. Die meisten sind aber in ihrem Wahn gefangen, so dass
es quasi unmöglich ist.“
Jana sagt, dass an einer Schule ein dort sehr verrufener junge Mann zu
ihr gekommen sei, nachdem er ihre Geschichte gehört hatte: „Der
hatte Tränen in den Augen. ‚Endlich habe ich mich gefunden‘, hat
er gesagt. Bleibt, Jana, die nicht geheilt ist von ihrer Krankheit,
viel Erfolg zu wünschen bei ihrem Weg, sich selbst zu finden.Für die
Schüler und Schülerinnen im Heinrich-Hertz-Kolleg war es ein
interessantes und brisantes Thema: „Klar, bei 3.500 Schülern und
mehr als 35 möglichen Schulabschlüssen sind wir natürlich ein
Spiegel der Gesellschaft“, meint Schulleiter Markus Klasmeier. Und
ist sicher, dass die Gesundheitsvorsorge der etwas anderen Art bei
seinen Schülern auf fruchtbaren Boden stößt und zum Nachdenken
über einen selbst anregt. Denn irgendwie gilt doch für alle: Du bist
unvergleichlich!
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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