Wanderung zum Mount Everest Basislager
Wirtschaftswachstum und Tourismus
Gestern sind wir 600 m nach Namche Bazar aufgestiegen. Ich erspare euch Kommentare über Namche. Diese Hauptstadt des Everest Tals wird auf YouTube ausgiebigst beschrieben. Zugegebenermaßen ist Namche eine Oase der Zivilisation und zu unserer Schande muss ich gestehen, dass wir von dieser Oase schamlos Gebrauch machen. Diesen Text schreibe ich z.B. in einer wunderbaren Espresso Bar. Dazu trinke ich einen fantastischen Espresso und esse ein Stück Schokokuchen.
Bis vor einer halben Stunde hätte ich geschrieben, dass dies vorerst der letzte Artikel von dieser Reise ist. Denn Covid war für diese Region ein Desaster. Zwei Jahre war in dieser Region, die vom Fremdenverkehr und von Everest Expeditionen lebt, nichts los. Zwei Jahre ohne Einkommen für die meisten Träger, Führer, Tea Houses und Herbergen. Auch dieses Jahr liegt der Tourismus noch 60% unter den Vor-Covidzahlen. Das ist für uns einerseits schön. Denn das Tal ist relativ leer. Man hat viel Platz. Die Leute sind freundlich. Andererseits: Um Kosten zu sparen, hat das Tal das Satelliten basierte Everest-Link Internet deaktiviert. Horror! Leben ohne Internet. Das geht garnicht. Von daher ging ich davon aus, dass nach Namche mit Internet und Telefonie fertig ist. Jedoch scheint es nach neuesten Meldungen unseres Guides, als ob Everest-Link ab heute wieder funktioniert. Insofern bleibt uns die Zivilisation - Gott-sei-Dank - erhalten und ich kann voraussichtlich weiter bloggen. Mal sehen.
Anyway: Nun zum Thema. Das Everest Tal - das Khumbu Valley -, die Heimat des Sherpa Volkes, ist nach wie vor eine arme Region. Dennoch ist die Lebensqualität auch hier in den letzten Jahrzehnten signifikant angestiegen. Grundlage dieser Wohlstandssteigerung ist der Mount Everest, der als höchster Berg der Welt seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts ein starker Anziehungspunkt für westliche und vor allem für britische Expeditionen war. Zur Eroberung und Kolonialisierung der Welt gehörte ab einem bestimmten Zeitpunkt auch die Eroberung des höchsten Berges. Auf die Idee, hohe Berge zu besteigen, kommen Menschen oder Staaten natürlich erst dann, wenn sie es sich leisten können, d.h. wenn genug Wohlstand vorhanden ist, um Ressourcen für derartige Abenteuer verwenden zu können. Viele der ersten, riesigen Everest-Expeditionen sind gescheitert und es dauerte bekanntermaßen bis zum 29. Mai 1953, bis einer fast 400 Mann starken britischen Expedition die erste erfolgreiche Besteigung gelang. Ironischerweise standen am Ende jedoch keine Briten auf dem Gipfel, sondern der kleine Sherpa Tenzing Norgay zusammen mit dem neuseeländischen Hünen Edmund Hillary. Dass die beiden in der Lage waren, die bis dahin unüberwindbare Felsstufe kurz vor dem Gipfel, die heute Hillary Step heißt, zu überwinden, ist eine lustige Geschichte. Offenbar hob Hillary Tenzing hoch, so dass er für Hillary ein Seil zum Hochziehen anbringen konnte. So konnten beide schließlich zum Gipfel vordringen. Ein wahrhaft völkerverbindendes Unterfangen.
Hillary war von diesem Erlebnis derart beeindruckt, dass in der Folge einen großen Teil seiner Lebensenergie der Entwicklung des Khumbu Valleys widmete. Er richtete eine große Zahl von Schulen und Krankenhäusern ein und seine Präsenz ist bis zum heutigen Tag überall im Tal spürbar. Hillary ist im wahrsten Sinne des Wortes eine herausragende Persönlichkeit. Ausgehend von dieser britischen Expedition und dem Wirken Hillarys konnte sich das Khumbu Valley entwickeln. Diese Entwicklung wird von der lokalen Bevölkerung bis zum heutigen Tag als durchweg positiv aufgefasst.
Ein Beispiel ist in diesem Zusammenhang unser Guide ‚Pasang Temba Sherpa‘. Pasang heißt „Freitag“ in Sherpa Sprache, denn Pasang wurde an einem Freitag als eines von acht Kindern im Örtchen Chhuthawa geboren. Beim Geburtsjahr ist er sich nicht ganz sicher. Es ist entweder 1971 oder 1972. Offizielle Geburtsurkunden gab es zur Zeit seiner Geburt nicht. Die Familie war bettelarm. Der Schulweg betrug für Hin- und Rückweg jeweils zwei Stunden, die die Kinder Sommer wie Winter in billigen Sandalen zurücklegen mussten. Darüber hinaus mussten sie von Kindesalter an arbeiten, um die Familie zu unterstützen. Pasang war zunächst als Träger tätig. In diesem Zusammenhang lernte er als 14-jähriger eine ca. 65 Jahre alte Dame aus England kennen. Sie träumte davon, einmal in ihrem Leben den Mount Everest zu sehen. Deshalb hatte sie die weite Reise von England bis ins Khumbu Valley auf sich genommen. Allerdings litt sie unter einen starken Arthrose und war deshalb ganz offensichtlich körperlich nicht in der Lage den beschwerlichen Marsch durch das Tal bis zu einem Everest Aussichtspunkt zu bestehen. Deshalb wollte sich keiner der lokalen Führer ihrer annehmen. Keiner außer dem jungen Pasang. Er kümmerte sich um sie und brachte sie teils tragend in mehreren Wochen 40 km weit bis zum Kloster Tengboche und zurück. Eine Wahnsinnstat!
Eine Tat, die dazu führte, dass die britische Dame ihn adoptierte. Sie nahm ihn bei sich in England auf, wo er die Schule besuchen und Englisch lernen durfte. Bis zum Tot der Dame im Jahr 2006 verbrachte er jedes Jahr mindestens sechs Monate in England. Zunächst um zu Lernen, später um dort in allerlei Jobs zu arbeiten. Die Ersparnisse, die er damit machen konnte, nutzte er u.a. zum Kauf eines kleinen Grundstücks in Kathmandu. In wenigen Jahren verzehnfachte sich der Wert dieses Grundstücks und Pasang nutzte die US$ 100.000 Gewinn aus dem Grundstücksverkauf, um seinen beiden Kindern ein Studium in Colorado, USA zu finanzieren. Sagenhaft! Eine Geschichte, die mich zu Tränen rührt.
Wie an allen Orten der Welt gibt es auch hier im Khumbu Valley noch unendlich viel zu tun. Die Vereinbarung von Ökologie und Ökonomie ist selbstverständlich ein großer Teil davon. Ein anderer ist, die einmalige Schönheit dieses Tals bei ständig wachsendem Fremdenverkehr zu bewahren. Die Horrorbilder von den Schlangen vor dem Everest Gipfel sind kein schöner Anblick. Und noch grauenvoller ist die Vorstellung, dass es hier irgendwann einmal eine große Seilbahn gibt und das Tal in einen großen Disney Park umgestaltet wird. Wirtschaftswachstum ist gut und es hilft den Menschen hier. Aber wie immer, muss es ein intelligentes Wachstum sein. Die Nutzung von Wasserkraft und Solarenergie ist in diesem Zusammenhang ein prima Sache. Und ich würde mich nicht beklagen, wenn es hier ohne weiteres möglich wäre, jeden Tag warm zu duschen und Zugriff zu schnellem Internet zu haben. Bis heute ist beides noch nicht gewährleistet.
Morgen übernachten wir im Übrigen beim Kloster Tengboche auf 3.800 m Höhe - dem Ort zu dem Pasang im Jahr 1985 oder 1986 die ältere britische Dame brachte. Wenn ich Glück habe, habe ich dann noch Zugriff zum Internet. Dann werde ich weiter berichten.
LeserReporter/in:Oliver Gritz aus Bonn |
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