Der Deutsche Herbst
RAF-Terror erreicht die Region: die Schleyer-Entführung
Köln-Braunsfeld / Erftstadt-Liblar - September 1977, die Bundesrepublik Deutschland steuert auf eine
ihrer größten Krisensituationen zu. Der "Deutsche Herbst" hält
Menschen in der ganzen Welt in Atem. Und sein Ausgangspunkt liegt in
unserer Region - in Köln, genauer gesagt in Braunsfeld an der Vincenz
Statz-Straße. Dort wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer
von RAF-Terroristen entführt und nach Erftstadt-Liblar verschleppt.
Der Lechenicher Polizeihauptmeister Ferdinand Schmitt hätte dieser
Tage zum Held werden können, doch es kam alles ganz anders...
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40 Jahre ist es mittlerweile schon her, doch gerade viele Kölner und
Erftstädter Bürger werden sich an die dramatischen Ereignisse des
„Deutschen Herbstes“ im Jahr 1977 noch ganz genau erinnern. Mit
der Geiselnahme Hanns Martin Schleyers am 5. September 1977 und der
Entführung des Lufthansa-Flugzeugs "Landshut" durch palästinensische
Terroristen gut fünf Wochen später sollte die Freilassung von elf
inhaftierten Terroristen der Rote Armee Fraktion (RAF) erzwungen
werden. Wir drehen das Rad der Zeit 40 Jahre zurück:
5. September 1977 - Die Entführung von Hanns Martin Schleyer
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Es ist ein lauer Spätsommertag. Kurz nach 17 Uhr lässt sich Hanns
Martin Schleyer von seinem Chauffeur an seinem, unweit des Rheins
gelegenen Kölner Dienstsitz abholen. Die Fahrt führt zu Schleyers
Dienstwohnung in Köln-Braunsfeld. Begleitet wird der dunkle Mercedes
des Arbeitgeberpräsidenten und Vorsitzenden des Bundes der Deutschen
Industrie von einem hellen Wagen mit drei bewaffneten
Personenschützern.
Als hoher Repräsentant der bundesdeutschen Wirtschaft mit offen
eingestandener SS-Vergangenheit verkörpert Schleyer wie kaum ein
anderer das Feindbild der RAF – daher gilt für ihn seit Ende Juni
1977 die höchste Sicherheitsstufe.
17.18 Uhr - der Konvoi erreicht die Vincenz-Statz-Straße. Hier,
direkt am Rand des Kölner Stadtwalds, wird die kleine Wagenkolonne
bereits erwartet. Aus einer Einfahrt fährt RAF-Terrorist Stefan
Wisniewski im Rückwärtsgang ein Fahrzeug auf die Straße, um den
schmalen Fahrweg zu blockieren. Schleyers Chauffeur kann den Mercedes
abbremsen und zum Stehen bringen. Der Begleitwagen fährt von hinten
auf und schiebt den Wagen des Arbeitgeberpräsidenten auf das
Sperrfahrzeug der RAF. Sofort eröffnen die Terroristen das Feuer,
Schleyers Fahrer und die drei Personenschützer sterben im Kugelhagel.
Hanns Martin Schleyer bleibt unverletzt.
Er wird von den vier Attentätern in ein bereitstehendes Fluchtauto
gezerrt und in das Versteck nach Erftstadt-Liblar gebracht.
Alteingesessene Erftstädter kennen das Appartementhaus Zum Renngraben
8 heute noch unter dem Namen "Schleyer-Hochhaus". In diesem Wohnhaus -
in Sichtweite des Liblarer Bürgerplatzes und des Einkaufszentrums -
halten Mitglieder der RAF den Wirtschaftsfunktionär Hanns Martin
Schleyer tagelang versteckt.
Das 15-stöckige Appartementhaus am Renngraben erfüllt alle
notwendigen Kriterien: Es liegt in unmittelbarer Nähe zu einer
Autobahn, verfügte über eine Tiefgaragenzufahrt und bietet dank
seiner 120 Mietparteien eine gewisse Anonymität.
Die Wahl des Verstecks und ein Rätsel
Angemietet hatte Schleyers „Volksgefängnis“ eine junge Frau, die
sich als Annerose Lottmann-Bücklers, Modeschneiderin aus Wuppertal,
ausgegeben hatte. Tatsächlich handelt es sich um die RAF-Anhängerin
Monika Helbing. Mit einem dicken Bündel Bargeld soll sie Kaution und
Mietzahlung für die 78 Quadratmeter große Wohnung 104 im dritten
Stock beglichen haben – ein Indiz, das auf die Spur der Geiselnehmer
hätte führen können.
Während seiner zehntägigen Geiselhaft in Liblar dürfte sich
Schleyer überwiegend auf einer Matratze im Raum neben dem
Schlafzimmer der Terroristen aufgehalten haben. Dieser Ort ist
Schauplatz der Verhöre des selbsternannten ‘Volksgerichts’, dort
nehmen die Entführer die Erpresserfotografien und Videos auf.
Die Wahl des Schleyer-Verstecks birgt eine ebenso rätselhafte wie
brisante Dimension: Das Hochhaus Zum Renngraben 8 liegt nur wenige
Meter Luftlinie vom damaligen Wohnhaus des maßgeblich in die Fahndung
nach den Schleyer-Entführern involvierten Staatsministers
Hans-Jürgen Wischnewski, Spitzname "Ben Wisch", entfernt. Handelte es
sich bei der Wohnungswahl um einen bloßen Zufall oder bewussten
Affront der RAF? Dem nicht genug: Eine bis heute nicht aufgeklärte
Ermittlungspanne vereitelte das frühzeitige Ende der
Schleyer-Entführung. Um ein Haar wäre ein Erftstädter Polizist zum
Helden im Fall „Schleyer“ geworden...
Die Fahndung, Ferdinand Schmitt und eine Panne
In diesen Septembertagen steht Polizeihauptmeister Ferdinand
Schmitt aus Erftstadt-Lechenich 1977 nur kurze Zeit nach der
spektakulären Verschleppung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin
Schleyer durch das RAF-Kommando ‚Siegfried Hausner‘ vor der Türe
der in diesen Tagen meist gesuchten Wohnung Deutschlands...
Bereits zehn Minuten nach Schleyers Entführung haben am Tatort in der
Kölner Vincenz-Statz-Straße die polizeilichen Ermittlungen begonnen.
Eine Stunde später wird die Suchaktion auf ganz Nordrhein-Westfalen
ausgeweitet, BKA-Chef Horst Herold zum zentralen Einsatzleiter
ernannt. Mit Hilfe der von ihm entwickelten, computergestützten
„Rasterfahndung“ sollen die Drahtzieher der Entführung ermittelt
werden. Was Herold nicht einkalkuliert hatte, war die Möglichkeit,
dass ein entscheidender Hinweis im Polizeiapparat untergehen könnte.
Hinweis des Lechenichers Ferdinand Schmitt ging unter
Dies führt die Geschichte zu Polizeihauptmeister Ferdinand Schmitt:
Am 7. September, zwei Tage nach der Entführung, begibt sich der
Erftstädter Polizist, wie viele seiner Kollegen der örtlichen
Polizeibehörden, auf die Suche nach Schleyers möglichem
Aufenthaltsort. Ein Hinweis der Hausverwaltung des riesigen
Wohnkomplexes „Zum Renngraben“ auf eine in bar zahlende Mieterin
hatte Schmitt aufhorchen lassen. Mit einem Fernschreiben teilt der
Polizeihauptmeister von der Wache in Erftstadt-Lechenich seine
Entdeckung sofort den vorgesetzten Behörden mit – doch nichts
geschieht. Seine Hinweise auf das RAF-Versteck bleiben in den
folgenden Tagen irgendwo im Polizeiapparat hängen, wo genau, ist bis
heute nicht geklärt. Vermutlich war die ‚heiße Spur‘ seinerzeit
von der Sonderkommission des BKA als nicht relevant eingestuft worden.
Dabei hätte die Überprüfung des Namens der angeblichen Mieterin der
Wohnung 104 im dritten Stock des Hochhauses ‚Zum Renngraben 8‘ im
Erftstädter Stadtteil in Liblar rasch zu einem Erfolg geführt. Denn:
In den Wochen zuvor hatte eine Frau namens Annerose Lottmann-Bücklers
wiederholt Ausweispapiere als gestohlen gemeldet, um die Papiere und
ihre eigene Identität, so die spätere Vermutung der Fahnder, der RAF
zur Anmietung von Wohnungen zur Verfügung zu stellen.
Horst Landmann, damals Innendienstleiter der Dienststelle Lechenich
und Kollege des mittlerweile verstorbenen Ferdinand Schmitt erinnert
sich: „Wie ich hat auch unser Dienststellenleiter Rolf Breithaupt
Ferdinand Schmitts Verdacht geteilt und gesagt: ‚Die sind hier
irgendwo!‘ Leider gab es nichts wirklich Konkretes, um eingreifen zu
können.“
Schmitt wollte Terroristen aufscheuchen
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So schmiedet Schmitt schließlich eigene Pläne, um die Terroristen
aufzuscheuchen. Sein Vorhaben, Strom und Wasser in der Liblarer
Wohnung sperren zu lassen, kann allerdings nicht umgesetzt werden.
Auch ein Besuch der Wohnung am Renngraben bleibt ohne Erfolg. Hätte
man auf Schmitt gehört, wäre Schleyer vielleicht am Leben geblieben.
Und möglicherweise hätte die Enttarnung des Verstecks der
nachfolgenden Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" mit 91
Personen an Bord durch kooperierende arabische Terroristen Einhalt
geboten. Insgesamt halten die Entführer Schleyer in Erftstadt zehn
Tage versteckt. Danach wird er in Den Haag und Brüssel festgesetzt.
Wenige Stunden nach der Befreiung der Landshut-Geiseln durch die
deutsche Spezialeinheit GSG 9 am 18. Oktober auf dem Rollfeld in
Mogadishu (Somalia) begehen die RAF-Häftlinge Andreas Baader, Gudrun
Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses
von Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Irmgard Möller überlebte ihren
Suizid-Versuch. Der Selbstmord des Trios gilt als Auslöser für die
Ermordung Schleyers, dessen Leiche einen Tag später im Kofferraum
eines Autos im lothringischen Mulhouse im Elsass gefunden wird.
Observierung der Liblarer Wohnung im Nachhinein verpufft
Im November 1977 kehren die BKA-Ermittler noch einmal nach Erftstadt
zurück. Zahlreiche Fahnder, verteilt auf Wohnungen im Umkreis des
Renngrabens, observieren die verdächtige Mietwohnung in der Hoffnung,
die Entführer würden zum Tatort zurückkehren. Ein Trugschluss der
Fahnder. Stattdessen geht bei der Hausverwaltung im Januar 1978 die
ordnungsgemäße Kündigung des Mietverhältnisses ein: Fräulein
Lottmann-Bücklers nennt sich nun Ms. Johnson und gibt eine
postlagernde Adresse in Sydney/Australien an. Es ist die späte
Verhöhnung der Fahnder durch die Terroristen. 42 Tage lang hatten sie
„Deutschland im Herbst“ 1977 in Atem gehalten sowie in Angst und
Schrecken versetzt. Die Befreiung der Geiseln aus der Lufthansa
„Landshut“ war gleichsam auch ein Befreiungsschlag für die
deutsche Zivilgesellschaft.
Das Ende der RAF
Alle 20 RAF-Leute, die im Herbst 1977 im Untergrund lebten, konnten im
Laufe der Jahre identifiziert werden; 17 wurden festgenommen, zwei
erschossen. Damit fehlt eine einzige Person, nämlich Friederike
Krabbe. Sie ist nach der Schleyer-Entführung in Bagdad geblieben, hat
einen Palästinenser geheiratet und soll heute im Libanon leben.
Das Jahr 1977 war das blutigste Jahr in der Geschichte des
RAF-Terrorismus, der Herbst ein unrühmlicher Höhepunkt. Aber erst 20
Jahre später ist die RAF tatsächlich Geschichte - nach vielen
weiteren Anschlägen der dritten Generation in den 80er und 90er
Jahren: Am 20. April 1998 geht im Kölner Büro der Nachrichtenagentur
Reuters ein neun Seiten langes Schreiben ein mit dem lapidaren und
letztlich entscheidenden Textteil:
„Heute beenden wir das Projekt, die Stadtguerilla in Form der RAF
ist Geschichte.“
- Claudia Scheel, Volker Düster und Ulf-Stefan Dahmen
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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