Mit dem Wohnmobil on Tour
Unterwegs im Baltikum
Marienheide - (un) Von Ulrich Niepenberg
Nachdem unser Sohn geheiratet hatte, stand für uns fest: wir möchten
die Heimat unserer Schwiegertochter kennenlernen. Estland, das
nördlichste Land der drei baltischen Staaten.
Mit dem Wohnmobil machten wir uns auf die rund 2.100 Kilometer lange
Reise, welche uns zunächst durch Polen führte. Bevor wir die
polnisch-litauische Grenze erreichten, wartete der traumhaft gelegene
Sarzsee, eingebettet in die Masurische Seenplatte, auf uns.
Als wir nach etwa 1.500 Kilometern die litauische Grenzstadt
Druskininkai erreichten, beschlich uns ein eigenartiges Gefühl. Waren
wir hier wirklich in einer Republik angekommen, die noch vor 28 Jahren
zur Sowjetunion gehörte?
Ein stiller und nachdenklich machender Ort im Herzen Litauens: der
Berg der Kreuze in Siauliai. Die bis zu fünf Meter hohen Kreuze
wurden zu Symbolen für Leiden und Hoffnung, des Widerstands gegen die
Fremdherrschaft. Der Hügel wurde durch die Rote Armee dreimal dem
Erdboden gleichgemacht, doch immer wieder stellten Pilger neue Kreuze
auf, um der Menschen zu gedenken, die getötet oder deportiert wurden.
1990 zählte man etwa 40.000 Kreuze, seit der Unabhängigkeit hat sich
ihre Zahl mindestens verzehnfacht.
Entlang der Rigaer Bucht ging unsere Reise an der Ostküste Lettlands
weiter. Nach rund 1.900 Kilometern erreichten wir das bekannte Seebad
Pärnu, eine 46.000 Einwohner zählende Hafenstadt im Süden Estlands.
Die ehemalige Hansestadt mit kilometerlangem und bis zu 100 Meter
breitem Sandstrand trägt wegen ihrer Lage den Titel „Estlands
Sommerhauptstadt“. Das Stadtbild prägen einige schön anzuschauende
historische Holzvillen, allerdings auch nach dem zweiten Weltkrieg
entstandene zahlreiche mehrstöckige Sanatoriumsbauten. Zu den
Kurgästen zählten hohe Parteifunktionäre aus Moskau und St.
Petersburg. Nach der Unabhängigkeit wurden viele dieser
Rehabilitationseinrichtungen saniert. Der Anteil der Kurgäste aus
Russland ist mittlerweile stark zurückgegangen, stattdessen haben die
Finnen Pärnu für sich entdeckt.
22 Kilometer vom Festland entfernt liegt Hiiumaa, zweitgrößte Insel
des Landes. Hiiumaa ist eine flache Insel, der höchste Punkt misst
nur 68 Meter. Das Inselinnere ist nahezu unbesiedelt und besteht
überwiegend aus Mooren und Wäldern. Während unseres Aufenthaltes
auf einem riesigen Waldcampingplatz direkt am Ostseestrand, einem
wunderbaren Ort der Ruhe und Entspannung, besichtigten wir die aus dem
13. Jahrhundert stammende kleine Kirche von Pühalepa mit der in
Estland einzigartigen Steinkanzel, den prachtvollen 1875 erbauten
Leuchtturm von Tahkuna, in dessen Nähe 1995 ein durch Spenden der
Bevölkerung von Hiiumaa finanziertes Denkmal für die bei der
Estonia-Katastrophe im Jahre 1994 ums Leben gekommenen Kinder
errichtet wurde und das Soera-Bauernhofmuseum, bestehend aus
reetgedecktem Wohnhaus mit Scheune, Kornspeicher, Sommerküche und
Rauchsauna, welches einen guten Einblick in das bäuerliche Leben
vergangener Zeiten gibt.
Bis zur estnischen Haupt- und Hafenstadt Tallinn, dem Ziel vieler
Kreuzfahrtschiffe auf dem Weg ins russische St. Petersburg, waren es
noch 100 Kilometer. Mit rund 400.000 Einwohnern ist Tallinn die mit
Abstand größte Stadt Estlands und das bedeutendste Wirtschafts- und
Kulturzentrum des Landes. Zu Fuß kann man den Domberg erklimmen, von
dem man auf die imposante Stadtmauer, von der bis heute etwa die
Hälfte erhalten geblieben ist, mit ihren zahlreichen Türmen blickt
sowie auf ein zum UNESCO-Welterbe zählendes mittelalterliches
Schmuckstück: die Altstadt.
Das Zentrum der Stadt bildet der Rathausplatz mit dem spätgotischen
Rathaus. Weitere Höhepunkte: die vom 14. Jahrhundert bis heute fast
unverändert gebliebene Heiliggeistkirche mit ihren faszinierenden
Holzschnitzereien, die Nikolaikirche, eine ehemalige Kaufmannskirche
aus dem 13. Jahrhundert sowie die „Raeapteek“, die
Rathausapotheke, die zu den ältesten Apotheken der Welt zählt.
Auf dem Domberg erhebt sich die prächtige orthodoxe
Alexander-Newski-Kathedrale mit ihren fünf bunten Zwiebeltürmen.
Direkt gegenüber das Tallinner Schloss, von dem das Äußere auf die
Umbauten von Zarin Katharina II. im 18. Jahrhundert zurückgeht. Rund
um die Domkirche bleibt man immer wieder vor den vielen klassizistisch
aussehenden Adelshäusern stehen. In den mittelalterlichen Häusern
der Katharinengasse ist heute Kunsthandwerk zu bestaunen.
Wir besuchten das Musikfestival „Viru Folk“ in Käsmu sowie das
Sängerfest in Tallinn anlässlich des 100. Geburtstages des Landes.
Wunderbare Melodien und ein Fahnenmeer in den Landesfarben begleiteten
uns durch einen emotionalen Abend. Die Liebe der Einheimischen zu
ihrem kleinen Land war bei jedem Einzelnen zu spüren.
Aegna, ein nur drei Quadratkilometer großes Eiland in der Ostsee vor
der estländischen Nordküste, mit 70 Prozent Wald bedeckt, sechs (!)
Einwohner: an das traditionelle Familienfest mit Zelten, Grillen,
Singen und Tanzen denken wir gerne zurück, allerdings auch an die
nasse, abenteuerliche und rasante Überfahrt mit dem Schnellboot.
Die letzten Tage unserer herrlichen Reise durch dieses wunderbare Land
verbrachten wir im Lahemaa-Nationalpark (Wanderung über schmale
Holzstege durch eine bunte Moorlandschaft), am Peipus-See im Osten,
welcher sieben Mal so groß wie der Bodensee ist und durch den die
estnisch-russische Grenze verläuft, sowie einem kleinen Dorf in der
Nähe der südestnischen Universitätsstadt Tartu, in welchem wir im
Rahmen einer großen Familienfeier verabschiedet wurden. Eine
unvergessliche Zeit neigte sich mit einem malerischen Sonnenuntergang
an einem angrenzenden kleinen See ihrem Ende entgegen.
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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