Kein Corona in Aventurien
Leben in Zeiten von Corona: Mit Discord ins Abenteuer

Rechner an, Chipstüte auf, Würfel bereit: Dank Discord muss auch in Corona-Zeiten die, seit 32 Jahren statfindende, Rollenspielrunde nicht ausfallen. | Foto: Olaf Preisen
  • Rechner an, Chipstüte auf, Würfel bereit: Dank Discord muss auch in Corona-Zeiten die, seit 32 Jahren statfindende, Rollenspielrunde nicht ausfallen.
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Region - Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: FAST hätte
der Corona-Virus etwas geschafft, was Abi, die erste große Liebe,
Studium, Beruf und Familiengründung nicht geschafft haben: Das
wöchentliche Treffen einer verschworenen Gemeinschaft von „Nerds“
zu verhindern. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch und so wurde
der, seit 32 Jahren stattfindende, feste Termin einfach digitalisiert.

Lang ist es her, als mir ein Freund vom „Schwarzen Auge“ erzählte
und ich schon kurze Zeit später in der imaginären Fantasy-Welt
Aventurien meine ersten Abenteuer erlebte. Ich war 14 Jahre alt und
schnell Feuer und Flamme für dieses neuartige Fantasy-Spiel.

Als deutsche Antwort auf das US-Original von Gary Gygax, Dungeons &
Dragons (D&D), brachte Schmidt Spiele 1984 das erste deutsche Pen &
Paper (engl. Stift und Papier)-Rollenspiel auf den Markt.

Die Spieler erschaffen sich, auf einem Blatt Papier, einen Krieger,
Zauberer, Elfen oder Zwerg mit Stärken und Schwächen. Angeleitet von
einem Erzähler, Spielleiter oder Meister genannt, erleben sie
spannende Abenteuer voller Magie, Monster und Intrigen.

Der Spielleiter beschreibt die Umgebung, verkörpert alle Figuren, auf
die die Abenteurer treffen, erzählt den Spielern, wie die
Phantasiewelt auf ihr Handeln reagiert.

Besonders in Amerika wurde das neue Kult-Phänomen anfangs sehr
skeptisch betrachtet. In der ersten US-Version wimmelte es nur so von
Teufeln und Dämonen, was konservative Christen auf die Barrikaden
brachte. Sie befürchteten, dass das Spiel Teufelsanbetung fördere
und Kinder in den Selbstmord treibe.

Im Film „Labyrinth der Monster“ spielt Tom Hanks einen, dem
Rollenspiel „verfallenen“ College-Studenten, der am Ende Fiktion
und Realität nicht mehr auseinander halten kann und fast vom World
Trade Center springt.

Heute ist diese Art von Rollenspiel längst hoffähig. Spätestens
seit der US-Sitcom „Big Bang Theory“ erlebt das Pen & Paper-Genre
ein Revival. Stars wie Vin Diesel, Kevin Smith, Dwayne „The Rock“
Johnson und Wil Wheaton sind bekennende D&D-Spieler und sogar Judi
Dench soll als Spielleiterin Rollenspiel-Runden für ihre Enkelkinder
schmeißen.

Mich persönlich begeisterte die Handlungsfreiheit der neuen
Spielform. Schnell stellte ich fest, dass ich mich aus vielen
brenzligen Situationen, durch unkonventionelle Handlungen,
herauswinden konnte und nicht immer die direkte Konfrontation der
beste Weg ist.

Die Gruppe um mich herum wuchs und auf das Schwarze Auge folgten viele
andere Rollenspiele: Wir kämpften gegen das galaktische Imperium,
für das galaktische Imperium, gingen auf Schatzsuche und legten uns
dabei mit fiesen Nazis und Geheimbünden an, waren Vampire, jagten
Vampire, ritten durch den Wilden Westen und bauten uns – zur Zeit
der amerikanischen Prohibition – ein eigenes Gangsterimperium auf.

Gespielt wurde fast immer bei mir zuhause und nicht selten bis in die
frühen Morgenstunden. Doch irgendwann war die Luft raus und unsere
Treffen wurden mehr zum Stammtisch: Zusammensitzen, Bierchen trinken,
Chips essen und über den Job, die Familie und das aktuelle politische
Geschehen reden. Doch der Name „die Rollenspieler“ blieb bestehen,
auch wenn höchstens mal ein Gesellschaftsspiel gespielt wurde.

Das brachte meine Tochter irgendwann zur Frage: „Warum nennt ihr
euch eigentlich die Rollenspieler?“ Mit einer einfachen Antwort war
es nicht getan und so folgten auf Worte wieder Taten. Für meine
Tochter kehrten wir dahin zurück, wo alles begann: Nach Aventurien.

Aus einem IT-Manager wurde ein trinkfreudiger Söldner, aus einem
Diplom-Kaufmann ein junger Zauberer, aus einem Kommunikationstechniker
eine unansehnliche Kriegerin mit hohem Aggressionspotential und aus
einem Journalisten ein arroganter Elf mit Hang zur
Selbstüberschätzung. Gemeinsam begleiten wir eine junge Elfe auf die
vielen Original-Abenteuer des Schwarzen Auges.

Doch dann kam Corona und die Treffen wurden seltsam. Nachdem die
ersten Infektionen im Kreis Heinsberg bekannt wurden, wurde nicht mehr
gemeinsam in die selbe Chipstüte gegriffen und in unserer Wohnküche
etwas häufiger durchgelüftet.

Um den Spielspaß nicht zum Erliegen zu bringen, wurde dann in der
vergangenen Woche entschieden, bis auf Weiteres die Treffen ins
Internet zu verlegen.

Auf Discord, einem kostenlosen Programm für Sprach- und
Videokonferenzen, wurde eine Gruppe eingerichtet, verzweifelt wurden
Geschäfte nach Headsets, Mikrophonen und Webkameras abgegrast und am
Donnerstagabend ging es, nach einigen Anfangsschwierigkeiten, endlich
los:

Rechner und Kamera an, Kopfhörer und Chipstüte auf, Charakterbogen
raus, Stift, Papier und Würfel bereit. Das Spiel konnte beginnen.

Im Abenteuer „Stromaufwärts“ retten wir einen Jüngling vor einer
Schar Straßenräuber, um ihn später auf einer Flussreise durch das
finstere Bornland zu begleiten. Wir treffen auf verängstigte
Dorfbewohner, werden in den Sümpfen von fiesen, affenartigen
Sumpfranzen angegriffen und treffen schließlich auf Flusspiraten.

Mein Versuch, mit Einsatz von ein bisschen Magie und meinen
„fabelhaften“ Schwertkampfkünsten den Piratenkapitän
BlaBlaBla-Einhand zu BlaBlaBla-Ohnekopf zu machen, geht – wie
gewöhnlich – ordentlich schief und auch bei den Kollegen und
Kolleginnen meiner Abenteurergruppe läuft es nicht rund bei der
Schiffsverteidigung.

Am Ende bleibt uns nur noch der Sprung in den kalten Fluss und das
Erreichen des rettenden Ufers. Jetzt müssen wir uns durch die Wildnis
schlagen, Beeren sammeln und auf die Jagd gehen. Aber das muss bis
nächste Woche warten, denn die Zeit ist um und am nächsten Morgen
müssen alle wieder ins Home-Office oder ins Home-Klassenzimmer.

Schön war es wieder, denn in Aventurien gibt es kein Corona. „Aber
dafür verdammt viele Piraten“, ergänzt unsere junge Elfe.

- Lars Kindermann

Redakteur/in:

Lars Kindermann aus Rhein-Erft

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