Corona-Spaziergänge in Lechenich
Niemand kümmert sich um Abstand und Maskenpflicht
Erftstadt. Am vergangenen Montag (17. Januar) sahen sich die sogenannten "Corona-Spaziergänger" in Lechenich erstmals einer zahlenmäßig ähnlich starken Gruppe von "Gegendemonstranten" gegenüber. Die hatten sich mit ihren Plakaten und Transparenten am Straßenrand vom Bonner Tor in Richtung Marktplatz postiert. Mit der Folge, dass die "Spaziergänger" nicht wie in den Vorwochen über die Straße, sondern von der Polizei mit "Sicherheitsabstand" über den gegenüberliegenden Bürgersteig geleitet wurden.
Ernsthafte Zwischenfälle gab es nicht, die beiden Gruppen bedachten sich lediglich gegenseitig mit inhaltlich nicht wirklich sinnhaften Geräuschen.
Auch für heute Abend sind wieder Demonstrationen in Erftstadt angemeldet! Und demnächst - so wird bereits angekündigt - spaziert der Rhein-Erft-Kreis in Erftstadt.
Maskenpflicht und Abstand
Bei den Coronaspaziergängen durch Lechenich wird grundsätzlich kaum Abstand zwischen den Teilnehmend gehalten und die allermeisten der "Spaziergänge" tragen auch keine Maske über Mund und Nase. Angesprochen auf die Frage, warum das nicht kontrolliert oder angemahnt werde, heißt es bei der Polizei: "Dafür sind wir nicht zuständig." Das sei Sache des städtischen Ordnungsamtes.
Das sieht Christian Kirchartz, Pressesprecher der Stadt Erftstadt, auf Nachfrage ganz anders: "Bei den Coronaspaziergängen handelt es sich um eine polizeiliche Lage. Deshalb ist auch die Polizei in diesen Fällen zuständig."
Skurrile Gesänge und Tanzeinlagen
Inmitten der "Corona-Spaziergänger" fallen zwei Frauen auf, die auf dem Marktplatz tanzen und singen. Aus dem mitgebrachten Megaphon tönt es "Wir sind das Volk, wir sind das Volk..." Die beiden Damen scheinen textsicher und singen fleißig mit. Ton- und Bilddokumente ihren "Auftritts" lehnen die Beiden ab. Sie möchten weder gefilmt noch fotografiert werden. Stattdessen bemühen sie eine junge Polizisten, den Beobachter der Szene auf strafrechtliche Konsequenzen für den Fall einer Veröffentlichung hinzuweisen.
2009, zum 20. Jubiläum des Mauerfalls hatte Kai Niemann, ein Musiker aus Sangerhausen, den Song, dessen Intro an die Leipziger Montagsspaziergänge erinnert, geschrieben. Jahrelang dümpelten Song und Video vor sich. Weit davon entfernt, ein Hit zu sein. Bis der Titel dann plötzlich auf NDP und Pegida-Veranstaltungen gespielt wurde. Und jetzt auch auf dem Lechenicher Marktplatz!
Kai Niemann hat die Titel längst aus seinem Repertoire gestrichen, das offizielle Video löschen lassen und die Band hat sich umbenannt: "Ich habe damals einen Rechtsanwalt kontaktiert, aber die rechtliche Handhabe ist leider gering. Wenn jemand bei einer genehmigten öffentlichen Veranstaltung Musik spielt, kann man das nicht verbieten. Der Veranstalter muss nur die Musik anmelden und Gebühren an die Gema bezahlen. Letztlich kann man sich nur so gut es geht davon distanzieren." Das hat Niemann in einem Interview der TAGESZEITUNG auf die Frage geantwortet, was er davon halte, dass Pegida-Leute den Song für sich entdeckt hätten.
Und noch etwas fällt auf: Ganz offensichtlich gibt es eine Art 'Tourismus' unter den Corona-Spaziergängern. Mitten in Lechenich steigt ein Familie mit kleinen Kindern aus einem Fahrzeug mit DU-Kennzeichen. Später ist die Familie mitten in der Gruppe der "Corona-Spaziergänger" auszumachen.
Organisatoren in der Nähe von AfD und dieBasis
Bei jeder Versammlungsanzeige sei die Polizei des Rhein-Erft-Kreises im engen Austausch mit den zuständigen Landes- und Bundesbehörden, heißt es auf Nachfrage. Dabei geht es vor allen Dingen immer auch um die Personen, die eine solche Anmeldung bei den Behörden anzeigen. Zu welcher Einschätzung die Behörden kommen, werde allerdings nicht veröffentlicht.
Nach aktuellen Angaben des Landesinnenministeriums sind in NRW in der Woche bis Montag (17.01.) bei 314 Versammlungen rund 55.000 Menschen im Zusammenhang mit Corona auf die Straße gegangen, etwa 5.700 davon waren Gegendemonstranten. Das Protestmilieu sei "zersplittert und fragmentiert". Unter den Teilnehmern seien Menschen aus der bürgerlichen Mitte, aber auch Verschwörungsmythiker, Corona-Leugner und Esoteriker.
Der Verfassungsschutz schätzt, dass der Anteil von Rechtsextremen und Reichsbürgern bei den Demos in NRW bei zehn Prozent liegt. Und trotzdem sieht der NRW-Verfassungsschutz die Gefahr einer Radikalisierung. Es sei den Rechtsextremen zwar nicht gelungen, die Proteste für sich komplett zu vereinnahmen. Andere Teilnehmer von Demos würden sich aber immer weniger von ihnen abgrenzen, so die Behörde in ihrer Einschätzung.
Auch in Erftstadt offenbaren die Organisatoren in sozialen Netzwerken eine deutliche Nähe zur AfD, zur Partei dieBasis oder etwa zur bundesweit aktiven Gruppe der sogenannten "Freiheitsboten". Ob auch tatsächlich ehemalige NDP-Aktivisten mitmarschieren, ist bisher nicht offiziell bestätigt. Und auch die Erftstädter Corona-Spaziergänge werden in weiten Teilen konspirativ über den Messenger Dienst 'Telegram' organisiert.
Hier kursierten in der vergangenen Woche dann auch Gerüchte, die Gegendemonstranten seinen mit 45 Euro pro Stunde für ihren Einsatz entlohnt worden.
"Haben Sie im Ernst den Eindruck, Erftstadt sei ein Reservoir rechter Kräfte? Welchen Anhaltspunkt haben Sie dafür anzunehmen, die „spazierenden“ Familien und Bürger/innen befänden sich im Schlepptau von Extremisten? Und welche alternativen Vorstellungen von demokratischem Protest haben Sie, wenn Sie selbst diese überaus zivile und friedliche Form – im Freien, ohne jedes Infektionsrisiko – verteufeln?", heißt es in einem offenen Brief des Kreisverbandes der Partei dieBasis, den die Partei auf ihrer Internetseite veröffentlich hat. Und: Man habe sich dazu entschieden, "Strafanzeige wegen Verhetzung und Verleumdung gegen die Unterzeichner der Stellungnahme der Erftstädter Parteien zu stellen". (Anm. der Redaktion: Gemeint ist eine gemeinsame Stellungnahme von SPD, FDP, CDU, Grünen, Freien Wählern und Die Linke).
Redakteur/in:Ulf-Stefan Dahmen |
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