Sozialberatungsstellen komplett überlaufen
„Das ist nur die Spitze des Eisbergs“

„Die Beratungsstellen sind schon über dem Limit“, sind sich Christiane Kaspari, AWO-Geschäftsführerin Barbara König und Sozialberaterin Viera Lohrey (von links) einig.  | Foto: Woiciech
  • „Die Beratungsstellen sind schon über dem Limit“, sind sich Christiane Kaspari, AWO-Geschäftsführerin Barbara König und Sozialberaterin Viera Lohrey (von links) einig.
  • Foto: Woiciech

Rhein-Sieg-Kreis. „Die Inflation kommt langsam aber zunehmend und spürbar bei uns in der Sozialberatung an“, erzählt Christiane Kaspari, Leiterin des Bildungs- und Beratungszentrum der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bad Godesberg.

Die Menge der Menschen, die in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis aufgrund ihrer Lebenssituation Hilfe suchten, hat sich bereits 2020 infolge der Corona-Pandemie verdoppelt.

In diesem Jahr verdreifachten sich die Zahlen längst, so dass die Mitarbeiterinnen den Ansturm der Klienten gar nicht mehr bewältigen können. „Im September zählten wir an einem Tag 20 Anrufe, 30 Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, 26 Emails und fünf feste Beratungsgespräche“, erinnert sich Sozialberaterin Viera Lohrey aus Siegburg sehr genau. „Die Fälle werden ebenfalls von Mal zu Mal komplexer. Früher kamen die Menschen mit einem Problem, nun stehen sie hier mit fünf bis sechs. Wo wir bisher eine halbe Stunde einplanten, sind es aktuell mindestens anderthalb. Wir haben also immer weniger Kapazitäten für mehr Menschen.“

Schon beim Ausfüllen von digitalen Anträgen sind die Leute überfordert, sei es wegen Sprachbarrieren oder einfach nur Verständnisfragen. Leider dauert das gemeinsame Ausfüllen bei der Beratung viel zu lange, dann die Frage nach dem Absenden, wenn Unterlagen oder Informationen fehlen. „Dann muss die ganze Prozedere nochmal neu durchgeführt werden. Beim Papierantrag ließen sich beispielsweise fehlende Angaben nachtragen, was online nicht machbar ist, Das raubt unheimlich Zeit.“

Ohnehin wird die Lage bei den Bedürftigen immer prekärer. Nicht nur Sozialhilfeempfänger oder Rentner stehen am Abgrund, sondern mittlerweile genauso Geringverdiener, denn durch die angestiegenen Energiepreise mangelt es ihnen oftmals am Geld fürs Essen und der Gang zur Tafel im Wohnort bleibt ihnen als letzte Konsequenz nicht erspart. Kindergeburtstage finden keine mehr statt, es fehlt an Winterkleidung, in betreuten Wohngruppen der AWO kommen keine Tomaten und kein Joghurt mehr auf den Tisch, und viele können sich Medikamente und Hygieneartikel nicht mehr leisten, Ältere verzichten sogar ganz aufs Duschen.

„Diese Menschen können nicht mehr sparen, weil sie schon vorher im Pullover in ihrer Wohnung saßen und die billigsten Dinge des täglichen Bedarfs kauften“, ergänzt Christiane Kaspari. „Das ist noch nicht mal die Spitze des Eisbergs. Die Beratungsstellen sind vollkommen überlastet“, erläutert AWO-Geschäftsführerin Barbara König.

Die Lage wird sich in den künftigen Monaten noch weiter verschlimmern. „Die Menschen sind frustriert und wenn ihnen nicht geholfen wird, dann beginnen sie sich zu radikalisieren. Dann sind auch sozialer Frieden und Demokratie gefährdet. Hinzu kommt noch eine stumme Not unter denjenigen, die ihre Situation einfach zu überstehen versuchen.“

Ein Beispiel etwa bilden die Anträge bei den Behörden, für deren Bearbeitung zwischen vier Wochen und drei Monate ins Land gehen. Häufig kommen die Klienten mit zwei Wochen-Fristen, die gar nicht eingehalten werden können. Und dann sind erst Beratungsgespräche in drei bis vier Wochen möglich. Bis dahin leben die Betroffenen in Angst, weil ihnen der Vermieter mit Kündigung droht. Wurden Anträge anschließend genehmigt, kann es dennoch lange dauern, bis das Geld fließt. „Wenn erst vier Monate später das Geld zur Auszahlung kommt, fragt sich so mancher, was er in der Zeit kochen soll.“

Die AWO-Geschäftsführung gibt hier eindeutig ein Signal an die Politik, dass mehr Stellen in der Sozialberatung gebraucht werden. „In der Region sind gut zwei Vollzeitstellen notwendig, um das Pensum zu bewältigen.“

Aber auch die hiesigen Institutionen können etwas beisteuern. „Schon allein die Zusammenarbeit der einzelnen Stellen und Behörden untereinander würden kurze Wege ermöglichen und uns erheblich helfen“, so Christiane Kaspari. „Aber auch die Option digitale Anträge auszudrucken und als Papierformular einzureichen, ist eine unglaubliche Arbeitserleichterung.“

Freie/r Redaktionsmitarbeiter/in:

Dirk Woiciech aus Siegburg

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

3 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.