Waldbaden
„Ich war so stolz auf mich“
Die Yoga-Lehrerin kniet sich neben einen Teilnehmer, der auf dem Boden in Rückenlage liegt. Seine Arme liegen ausgestreckt neben seinem Kopf. Die Beine sind mit seitlichen abfallenden Knien angestellt, während sich seine nackten Fußsohlen gegenseitig berühren. Sanft beginnt die Yoga-Lehrerin mit ausstreichenden Bewegungen auf der Stirn ihres Patienten, langsam lässt sie ihre Hände über den Hinterkopf zum Nacken weiter laufen.
Aus der Musikbox ertönt besänftigende Musik. Die weibliche Stimme singt: „The power of love is here now. The power of now is here now.“ Trotz geschlossener Augen strahlt das Gesicht des Patienten Glückseligkeit aus.
Neben ihm sind sieben weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die ähnlich entspannt liegen.
Der Moment ist geprägt von Ruhe und Frieden. Nur die acht Rollstühle im Raum deuten daraufhin, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Einschränkung haben könnten.
„Ich bekomme Gänsehaut. Die Arbeit und Mühe der letzten Monate hat sich gelohnt“, sagt sich Julian Breuer. Als Physiotherapeut arbeitet er in einer ambulanten neurologischen Reha-Einrichtung in Köln. Ein Schwerpunkt dort ist die Therapie mit Patienten, die eine Querschnittlähmung erlitten haben.
Ein Jahr an der Idee gearbeitet
Vor einem Jahr war Breuer zu einem Yoga-Waldbaden-Retreat (Retreat meint in diesem Zusammenhang eine besondere Zeit der Entspannung) eingeladen worden. „Obwohl ich mit großer Sicherheit zu den unbeweglichsten Therapeuten in Deutschland zähle, habe ich ohne Vorkenntnisse und mit großer Freude zugesagt“, erinnert er sich: „Nach schweißtreibenden, aber wohltuenden Yoga-Bewegungen saß ich damals im Wald auf einem umgestürzten Baumstamm. Undmerkte, ich wie entspannt ich war. Körperlich, wie mental.“
Und in Erinnerung geblieben ist ihm die „enorme Körperwahrnehmung von verschiedenen Reizen“. Ganz spontan seien ihm dann seine Patienten mit Querschnittlähmung in den Sinn gekommen. Wie mag so ein Tag diese Menschen beeinflussen, die einen Teil der Kontrolle über ihren Körper verloren haben?
In den folgenden Wochen besprach Julian Breuer sichmit seinen Kolleginnen und Kollegen in ihrem Kölner Therapiezentrum (NiB). Dann war klar: So etwas wollen wir für Menschen mit Querschnittlähmung machen.
Schnell waren eine neurologisch erfahrene Yoga-Lehrerin und ein finnischen Wald-Coach von der Idee überzeugt und als Therapeuten gewonnen.
Kreative Auszeit mit Waldbaden
An einem sonnigen Herbsttag war es dann endlich soweit. Mit acht Teilnehmerinnen und Teilnehmern begann das erste Yoga-Waldbaden-Retreat für Menschen mit Querschnittlähmung.
Yoga-Lehrerin Birgit beschreibt die erste Yoga-Einheit. „Adaptives Yoga lehrt uns, dass es nicht darum geht, einen perfekten Flow zu praktizieren sondern darum, unseren Körper und Geist in Einklang zu bringen, ganz gleich welche Hindernisse uns im Weg stehen.“ Die erste Einheit findet sitzend im Rollstuhl statt. Im Vordergrund stehen aktivierende Bewegungen kombiniert mit Atemtechniken. Julian Breuer: „Ich bin überrascht wie kreativ und abwechslungsreich die Bewegungsabfolgen sind.“
Sümeyra (28) sitzt nach einer Tumor-OP an der Wirbelsäule seit vier Jahren im Rollstuhl. Durch langes Sitzen baut sich im Bereich der hinteren Oberschenkelmuskulatur immer eine schmerzende Spastik auf. Sie erzählt nach der ersten Yoga-Einheit: „Es war für mich faszinierend zu erleben, wie die Spastik mit jeder bewussten Atmung nachließ. Jetzt kann ich entspannter in den Wald fahren.“
„Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so klar im Kopf war“
Mit dem finnischen Wald-Coach Jukka geht es in den Wald.
Er hat Wahrnehmungsübungen vorbereitet. Die Teilnehmerinnen und zählen die Reize auf, die sie persönlich für sich wahrgenommen haben. Was sie fühlen, was sie sehen. Übereinstimmend beschreiben alle, dass sie im Verlauf konzentrierter im Kopf wurden und so mehr Reize wahr nehmen konnten.
Ray (41) sitzt seit nach einem Unfall seit dreieinhalb Jahren im Rollstuhl: „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so klar im Kopf war. Ich konnte diesen Moment nutzen, um mich mit mir selber auseinander zu setzen. Was ist in den vergangenen Jahren seit dem Unfall alles passiert? Was läuft gut und was läuft schlecht? Ich war so stolz auf mich!“
Dann steht die zweite Yoga-Einheit auf dem Programm: der Fokus liegt jetzt auf Bewusstseinsarbeit und Regeneration. Eine eher passive Praxis, bei der man länger in einer Haltung verweilt. Diese Einheit findet bewusst auf dem Boden statt - für Rollstuhlpatienten ist das schwierig. Hilfestellung durch die Therapeuten lehnen die Patienten ab. Selbstständig und sicher kommen alle auf den Boden.
Jeder und jede macht die Übungen so gut, wie es die körperliche Verfasstheit zulässt. Sümeyra: „Es war witzig zu beobachten, wie wir alle an unsere individuellen Grenzen stießen. Aber das war völlig in Ordnung, denn in diesem Raum wurde nicht bewertet. Das zeigte mir, wie wichtig es ist, die Zügel der Strenge gegenüber sich selber etwas lockerer zu lassen.“
Physiotherapeut Julian Breuer ist „fasziniert, wie gut und selbstständig die Bewegungsabläufe funktionieren. Die dehnenden Ausgangsstellungen wirken bequem und entspannend, so dass ich mich am liebsten dazu legen möchte“.
Ray beschreibt das Erlebte so: „Ich habe gemerkt, wie die Bewegungen immer harmonischer wurden. Die Spastik war zwar noch in meinem Körper, aber ich habe die Willkür über die Unwillkür legen können.“
Die Einheit endet mit massierenden Ausstreichungen der Yoga-Lehrerin an den Köpfen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Viele waren seit ihrem Schicksalsschlag heute das erste mal im Wald und wollen dies nun öfter in ihren Alltag integrieren. Auch über eine gemeinsame Yoga-Gruppe, die sich regelmäßig trifft, wird nachgedacht.
Ray: „Bei unserem Therapie-Alltag geht es immer um Intensität und Frequenz. Dieser Gegensatz heute war total wertvoll und hat mir gezeigt wie wichtig diese Elemente körperlich und mental sind.“
Auch Julian Breuer ist glücklich und auch ein bisschen stolz: „Als Therapeut erlebe ich täglich mit wie vielen Hindernissen diese Menschen im Alltag konfrontiert werden - körperlich, im Gesundheitssystem oder in unserer Gesellschaft. Es ist schön zu sehen, dass sie diese für den heutigen Tag ausblenden konnten.“
Redakteur/in:Ulf-Stefan Dahmen |
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