Weltoffen und tolerant
93-Jährige singt mit kölsch-türkischem Rapper
Siegburg - Konzert mit Esther Bejarano am Anno-Gymnasium
„Wo gibt es sonst in Europa eine rappende Oma?“ Die Frage, die
Kutlu Yurtseven von der Band „Microphone Mafia“, über die Lippen
kam, konnten sich die Oberstufenschüler vom Anno-Gymnasium sofort
selbst beantworten. „Natürlich nirgendwo.“ Doch mit der
93-jährigen Esther Bejarano, die gemeinsam mit ihrem Sohn Joram am
Bass und dem kölsch-türkischen Rapper acht fetzige Songs in die Aula
schmetterte, hat es eine ganz besondere Bewandtnis.
Denn seit vielen Jahrzehnten kämpft die Musikerin und Autorin beherzt
gegen Rassismus und Antisemitismus. Das Konzert in Siegburg bot eine
einmalige Mischung aus Lesung und Musik.
Die 1924 im Saarland geborene Jüdin überlebte die Hölle von
Auschwitz sowie Ravensbrück und ließ die Zuhörer im Saal an ihren
Erinnerungen teilhaben. Mit eindringlicher Stimme erweckte sie den
Moment zum Leben, als sie eingepfercht in einem Zug im
Konzentrationslager eintraf. Schonungslos beschrieb sie die Methoden,
wie Menschen aussortiert und zum Tode in der Gaskammer verurteilt
wurden. Durch die polnische Musiklehrerin Zofia Czajkowska kam sie zum
Mädchenorchester, wo sie als Akkordeon-Spielerin einen Einstieg fand.
Wenige Sätze brauchte Esther Bejarando nur, um den Horror
aufzuzeigen, der mit musikalischer Begleitung allgegenwärtig war.
Untermalt von Märschen schickte man die Sklaven zur Arbeit oder
empfing die Neuankömmlinge in den Zügen. „Das war eine psychische
Belastung für uns. Die Menschen in den Waggons dachten, dass ein Ort,
an dem Musik gespielt wird, nicht so schlimm sein kann.“ Da die
Musikerin durch die christliche Großmutter „zu einem Viertel
arisch“ ist, durfte sie ins Strafgefangenenlager Ravensbrück.
„Ich nutzte den Vorteil voll aus, doch im Herzen blieb ich
Jüdin.“ Kurz vor Kriegsende gelang ihr 1945 mit sechs Freundinnen
die Flucht auf einem der Todesmärsche. Das letzte Bild von
amerikanischen und russischen Soldaten, die um ein brennendes
Hitler-Gemälde tanzten, hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
„Und dazu spielte ich Akkordeon. Es war nicht nur eine Befreiung
für mich, sondern eine zweite Geburt.“
In der Zusammenarbeit mit der Gruppe „Microphone Mafia“ erreicht
sie über das Ohr die Herzen der Menschen, ganz gleich ob jung oder
alt. Die dargebotenen Lieder sind mal düster und anklagend, mal
hoffnungsvoll und ermunternd. Hier vermischen sich im Rap-Gesang neben
der „Ballade der Judenhure Marie Sanders“ von Brecht, „Wann
jeiht dr Himmel widder op“ von den Höhnern, außerdem jiddische und
italienische Volkslieder. Gebannt lauschte das Publikum im Saal den
„Rhymes“, die von Hass und Lügen, aber auch von Freundschaft,
Toleranz und Zivilcourage künden. Wie nahe sich das Land heute wieder
am Rand der „Dunkelheit“ bewegt, greift Rapper Kutlu Yurtseven
auf: „1989 war nicht nur die Gründung unserer Band, sondern auch
der Mauerfall. Seitdem wurde vieles schlimmer, Menschen haben
geschwiegen und weggeschaut.“ Er erinnerte an die Einschränkung des
Grundrechts auf Asyl, die mehrtägigen Ausschreitung in Hoyerswerda
1991, den Tod von drei Menschen 1992 beim Brandanschlag in Mölln, und
1993 in Solingen, wo ebenfalls fünf Menschen starben. Die NSU-Morde
und das Nagelbomben-Attentat in Köln hat für Kutlu Yurtseven einen
sehr traurigen Stellenwert: „Die Bombe ist in unserer Straße
explodiert.“ Weil der Anschlag zunächst einem Streit im Drogen-
oder Rotlichtmilieu zugeordnet wurde, verdächtigte man schnell
pauschal die Anwohner. „Wir wurden alle kriminalisiert, die Medien
haben mitgemacht und die Menschen geschwiegen.“ Doch der Kölner
nimmt kein Blatt vor den Mund: „Nazis sind Feinde von jedem
Menschen, der autark und in Freiheit leben möchte.“ Des Weiteren
sieht er die aktuellen Entwicklungen in der Welt mit massivem Bedenken
und klagt Konzerne an, die Menschen das Wasser wegnehmen, sowie
Regierungen, die mit Rüstungsexporten Kriege ermöglichen. „Unsere
Lebensform ist die größte Fluchtursache. Solange wir schweigen und
hinnehmen, dass wir an der Armut der Menschen und an Kriegen
verdienen, müssen wir auch jeden einzelnen geflüchteten Menschen
hier aufnehmen. Danke.“ Die Begegnung endete mit einem tosenden
Applaus und „Standing Ovations“ für den grandiosen Auftritt. Zu
verwirklichen war diese Veranstaltung durch das Engagement von Annette
Hirzel, Pfarrerin am Anno-Gymnasium, den Diözesanrat der Katholiken
im Erzbistum Köln, der Evangelischen Kirche im Rheinland, dem
Evangelischen Kirchenkreis an Sieg und Rhein, sowie der
Bethe-Stiftung.
- Dirk Woiciech
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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