Kinder von Zwangsarbeitern in Alfter
Archivar Jens Löffler recherchiert
Alfter / Bonn - (fes) Sie stammten hauptsächlich aus Polen oder Osteuropa, rund
13,5 Millionen Ausländer mussten unter der Naziherrschaft unter
schlimmsten Bedingungen arbeiten, die meisten von ihnen, 80 bis 90
Prozent, als Zwangsarbeiter, auch im Rheinland: „Die grausame
Wahrheit ist, dass es auch auf dem Gebiet der Gemeinde Alfter
Zwangsarbeiter gegeben hat“, betonte Bürgermeister Rolf Schumacher
(CDU).
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Gemeinsam mit Gemeindearchivar Jens Löffler stellte er die Situation
der Zwangsarbeiter und im Besonderen der so genannten
„Ausländerkinder-Pflegestätte“ in Alfter vor. Die Auswertung von
Meldekarten ergab, dass gut 590 Ausländer in Alfter im Einsatz waren,
viele in der Landwirtschaft, aber auch in der Witterschlicker
Tonindustrie. Untergebracht waren sie direkt bei ihren Arbeitgebern
oder in diversen Lagern. Acht Lager zwischen Witterschlick und
Alfter-Ort sind bekannt. Und dann gab es noch die
„Ausländerkinder-Pflegestätte“ in Alfter.
Hier mussten Mütter ihre Säuglinge abgeben, damit sie weiterhin
unter Zwang ihre schweren Tätigkeiten verrichten konnten. Viele der
Babys starben 1944/45 innerhalb weniger Monate. Hätten sie überlebt,
wären sie heute 76 oder 77 Jahre alt. Auswertungen ergaben, dass in
dieser Stätte nicht nur Babys aus Alfter, sondern aus dem gesamten
Landkreis Bonn unter erbärmlichsten Verhältnissen untergebracht
worden waren.
Zum Hintergrund: Schwangere Zwangsarbeiterinnen waren den
Nationalsozialisten sowohl aus ökonomischer, als auch aus
rassenideologischer Sicht „ein Dorn im Auge“, schreibt Jens
Löffler. Denn die „Aufrechterhaltung der Produktion“ galt als
Hauptziel. Doch „trotz aller Anstrengungen war es den Nazis nicht
möglich, Schwangerschaften von Zwangsarbeiterinnen zu unterbinden.“
Zunächst schoben die Nazis schwangere Frauen in ihre Heimatländer
ab. Als jedoch die Schwangerschaften unter ihnen massiv anstiegen,
wurden zunehmend Entbindungs- und Kinderanstalten errichtet. Auch
Abtreibungen unter den Polinnen und sogenannten Ostarbeiterinnen
wurden gefördert und nicht mehr unter Strafe gestellt.
Für Alfter ist laut Löffler die Existenz der Pflegestätte seit Mai
1944 belegt. Die Literatur berichtet seit 1990 darüber. Eine eigene
Untersuchung hierzu gab es bislang nicht. Den Impuls für die
Forschung gab ein Bürgerantrag an den Haupt- und Finanzausschuss im
vergangenen Sommer, nachdem Ende 2019 eine 863 Karteikarten umfassende
Ausländermeldekartei an das Gemeindearchiv übergeben worden war. Die
Kartei hatte sich zuvor im Bonner Stadtarchiv befunden und diente als
zentrale Quellengrundlage für die nun vorliegende Publikation.
Standort und Trägerschaft: Die Pflegestätte soll Quellen und
Zeitzeugen zufolge am „Landgraben 112“ in Alfter-Ort gestanden
haben, der Adresse des Ortsbauernführers Johann Hennes. Mutmaßlicher
Träger der Pflegestätte war die Kreisbauernschaft Bonn. Die
Organisation vor Ort lag jedoch in den Händen des Ortsbauernführers.
Die Opfer: Wichtig war es Löffler und Schumacher, für die
vorliegende Arbeit möglichst viele Opfer dieser Pflegestätte
namentlich zu identifizieren, um ihnen ein angemessenes Gedenken zu
ermöglichen. Hierfür wurden unter anderem Sterbeurkunden beim
Stadtarchiv Bonn ausgewertet. Von 19 verstorbenen Säuglingen konnten
14 namentlich identifiziert werden. Es werden aber sicher noch mehr
gewesen sein.
Die Zustände in der Pflegestätte: In einem überlieferten Schreiben
vom November 1944 berichtete ein Amtsarzt von den katastrophalen
Zuständen in Alfter: Von Kindern, die „zugrunde gegangen“ und an
Unterernährung und aufgrund katastrophaler hygienischer Zustände
verstorben seien. Regelmäßig griffen ansteckende Erkrankungen um
sich. Zudem fehlte es nicht nur an Kleidung, Windeln, Bettwäsche und
Handtüchern, sondern auch an Stroh für die Betten. Die Räume waren
oft unterkühlt, die Wasserversorgung zeitweise unterbrochen. Der
Mediziner berichtete auch darüber, dass den Müttern und Kindern
nicht nur viel zu wenig Lebensmittel zugeteilt worden seien, sondern
auch Nahrungsmittel, die für die Säuglingsernährung völlig
ungenügend waren.
Das weitere Vorgehen: Die Untersuchung ist noch nicht
abgeschlossen und kann als eine Art Zwischenergebnis gesehen werden.
Rolf Schumacher und Jens Löffler möchten zu dem Thema den Dialog mit
der Bevölkerung suchen. Vor allem wünschen sich beide, dass sich
Zeitzeugen melden, die vielleicht selbst als Zwangsarbeiter gearbeitet
haben oder von der Situation oder von dem Gebäude – vermutlich eine
zweigeschossige Baracke – berichten können. Vielleicht existieren
sogar Fotos von diesem Bau: „Ein Projekt, für das die Zeit langsam
knapp wird“, heißt es von Löffler. Angedacht ist zu einem
späteren Zeitpunkt auch eine Präsentation in Zusammenarbeit mit dem
Haus der Alfterer Geschichte.
Auch ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfern sei Schumacher zufolge
möglich. „Uns ist es wichtig, dieses dunkle Kapitel in der Gemeinde
Alfter nicht zu verschweigen, aber auch klar die Namen der Täter und
der Opfer zu benennen. Dies sind wir den Opfern schuldig.“
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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