Früherer Kohleausstieg
Wird der Strukturwandel zum Strukturbruch?
Elsdorf/Bedburg - In Bund und Land wird derzeit laut über eine erneute
Beschleunigung des Ausstiegs aus der Braunkohleverstromung
nachgedacht. Neues Zieldatum: 2030 anstatt 2038.
„Was für die Erfüllung der Klimaziele sicher gut ist, stellt
Menschen, Unternehmen und Kommunen im Rheinischen Revier aber vor
immense Herausforderungen,“ so die drei Sprecher der
Tagebauanrainer.
Andreas Heller (Bürgermeister der Stadt Elsdorf), Thomas Hissel
(Erster Beigeordneter der Stadt Düren) und Sascha Solbach
(Bürgermeister der Stadt Bedburg) vertreten als gewählte Sprecher
die direkt und am stärksten betroffenen 20 Kommunen, die Standorte
der Tagebaue und Kraftwerke sind. In diesem Kernrevier, dass ungefähr
ein Drittel des gesamten Rheinischen Revier ausmacht, werden die
größten Anpassungslasten des Braunkohleausstiegs anfallen. „Hier
wird es darauf ankommen, insgesamt rund 22.000 Arbeitsplätze und 500
Millionen Euro Wertschöpfung pro Jahr qualitativ, quantitativ und
zeitnah zu kompensieren und dazu neue Wertschöpfungsketten zu
knüpfen,“ so Solbach.
Diese rechtzeitig bis 2038 zu kompensieren, damit die Region nicht
wirtschaftlich abstürzt, halten die Tagebauanrainerkommunen ohnehin
schon für sehr schwer. Wird der Ausstieg nun noch mal um acht Jahre
vorgezogen, sehen die Sprecher der Anrainer schwarz für die Region
und kritisieren die mangelnde Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit der
politischen Entscheidungen.
„Leitentscheidungen“ nennt das Land NRW die langfristigen Konzepte
und Rahmenvorgaben für den Braunkohlenabbau im Rheinischen Revier.
Dass solche Leitentscheidungen verlässlich sein müssen und man sie
nicht nach jeder Wahl ändern kann, liegt auf der Hand. Denn von
diesen Leitentscheidungen hängen langfristige Investitionen in
Milliardenhöhe von RWE und vielen, abhängigen Zulieferern,
Handwerkern und Dienstleistern ab und damit einhergehend tausende
Arbeitsplätze, berufliche Perspektiven und Familieneinkommen.
Entsprechend groß waren bisher die Abstände zwischen den
Leitentscheidungen. Nach 1991 folgte die nächste Leitentscheidung
2016, in der ein Ausstieg aus der Braunkohle im Jahr 2048
festgeschrieben wurde. „Wer also vor nur fünf Jahren eine
Ausbildung beginnen wollte, konnte nach damaligem Kenntnisstand in
aller Gelassenheit bei RWE oder einem nachgelagerten Unternehmen
unterschreiben und auf eine Perspektive von 32 Jahren plus
Rückbauzeitraum bauen – genug für ein Berufsleben. Aber schon zwei
Jahre später sollte das nicht mehr gelten.“, so Heller.
Jetzt, nur wenige Monate nach der letzten Leitentscheidung von März
2021, soll auch dieses Datum von 2038 nicht mehr gelten. Angestrebt
wird nun eine Beschleunigung des Ausstiegs um ganze acht Jahre. Das
Ausstiegstempo soll also schlicht verdoppelt werden.
Das Problem daran formuliert Hissel: „Es ist absehbar, dass Bundes-
und Landespolitik damit ein zentrales Versprechen des Strukturwandels
brechen werden, das lautet: Erst die Jobs und die Strukturstärkung,
dann der Ausstieg. Ziehen wir den Ausstieg jetzt ohne weitere
Maßnahmen vor, wird das nicht funktionieren können. Dann wird der
Strukturwandel zum Strukturbruch.“
Daran, dass das bis 2038 hätte klappen können, hatten die
Anrainersprecher vor dem Hintergrund der Erfahrung der letzten drei
Jahre schon große Zweifel. Bedburgs Bürgermeister Solbach stellt
dazu fest: „Auch wenn es seitens des Landes ein ernstgemeintes
Bemühen gibt, den Strukturwandel zu organisieren und auch die
Anrainer besonders zu unterstützen, gibt es bisher nur wenige,
zählbare und konkrete Fördermittelzusagen. Einzig in
wissenschaftliche Projekte und Bundesinfrastruktur fließt bisher
verlässlich das Geld, was aber durch die bestehenden
Förderrichtlinien auch ohne den Strukturwandel geflossen wäre. Wann
und wo dadurch Jobs entstehen, ist aber absolut ungewiss.“
„Dazu kommt, dass Planung und Gewerbegebietsentwicklung zäh und
langatmig wie eh und je laufen und dass die konkrete Förderung von
Unternehmensansiedlungen durch das EU-Beihilferecht nahezu
ausgeschlossen ist“, kritisiert Elsdorfs Bürgermeister Heller.
„Wenn der Ausstieg jetzt auch noch vorgezogen wird, ist es
ausgeschlossen, dass das grundlegende Versprechen gehalten werden
kann. Dann ist klar, dass der Ausstieg weitaus schneller kommt als die
Jobs … wenn es die dann überhaupt noch geben wird“.
Alle drei betonen, dass sie den Ausstieg grundsätzlich für richtig
halten und die Erfüllung der Klimaziele für absolut notwendig. Man
müsse aber „einfach anerkennen, dass wir diese Erfüllung der
deutschen Klimaziele auf dem Rücken von drei kleinen Regionen
erreichen, die auch heute schon mit sozialen und wirtschaftlichen
Problemen zu kämpfen haben.“
Die Sprecher sind überzeugt, dass „der Ausstieg hier mit einem
positiven Strukturwandel nur dann gelingen kann, wenn nachher
mindestens so viele Jobs und so viel Wertschöpfung in den betroffenen
Kernreviere besteht, wie vorher. Soll das bis 2030 auch nur im Ansatz
geschafft werden, ist jetzt sofort ein schnelles und kräftiges
Maßnahmenpaket erforderlich.
Zu diesen nötigen Maßnahmen und Bedingungen des Kernreviers für
eine nochmalige Beschleunigung gehören:
-Eine radikal schnellere Planung durch die Etablierung von
Sonderplanungszonen in den Kernrevieren.
„Mit dem bisherigen Tempo dauert die Entwicklung eines
Gewerbegebietes von der ersten Planung bis zur Bordsteinkante bis zu
zehn Jahren. Diese Zeit ist nicht vorhanden. Insofern müssen die
Planungszeiträume verkürzt, der Zusatzbedarf an Flächen endlich
anerkannt und auf eine angebotsorientierte Flächenentwicklung
umgestellt werden.“
-Die gezielte Förderung von Zukunftsindustrien und Sicherung des
vorhandenen Industriebestandes durch staatliche Investition im Rahmen
einer Sonderwirtschaftszone in den Kernrevieren.
„Es sind die Unternehmen, die die notwendigen Arbeitsplätze
schaffen können, nicht Bund, Land oder Kommune. Deshalb müssen wir
für Unternehmen handfeste Anreize schaffen, in den Kernrevieren
anzusiedeln oder zu expandieren. Das scheitert fast immer am
Beihilferecht. Die einzige Option, aus dieser Zwickmühle
herauszukommen, ist die Etablierung einer Sonderwirtschaftszone, in
der räumlich und zeitlich befristet, die Rahmenbedingungen für
staatliche Beihilfen radikal vereinfacht werden“.
-Die Etablierung einer eigenen, investiven Bundesförderrichtlinie
für den Strukturwandel.
„Bisher hat man auf Bundesseite darauf verzichtet für Investitionen
im Rahmen des Strukturwandels eine eigene Förderrichtlinie zu
schreiben. Die Folge ist, dass der Bund nur in Bereiche hinein
investieren kann, in die das immer schon ging und in denen es
existierende Förderrichtlinien gibt (Forschung, Straßen und Schienen
) Das führt aber dazu, dass die zuständigen Ministerien das tun, was
sie immer schon getan haben, es also für den Strukturwandel keine
besonderen und zusätzlichen Anstrengungen und Projekte gibt. Kurzum:
Business-as-usual, nur aus einem anderen Bundesetat. Damit wir in den
Revieren aber auch für den Strukturwandel maßgeschneiderte Projekte
bekommen, brauchen wir auch eine maßgeschneiderte
Bundesförderrichtlinie. Ansonsten läuft alles, wie bisher, es wird
auf die Bundesinvestitionen nur das ‚Etikett Strukturwandel‘
aufgeklebt.“
-Eine sofortige Beendigung der immer wieder beabsichtigten und
erfolgten Anrechnung von „Sowieso-Aufgaben“ auf das Budget der
Strukturmittel und die Einführung eines Wirksamkeits-Controlling auf
Bundesebene.
„Weder reguläre Investitionen in Bahninfrastruktur dürfen über
die Strukturmittel finanziert werden (Beispiel Westspange Köln), noch
Spitzenforschungsprojekte des Bundes (Beispiel Zentrum für
Elektronenmikroskopie). Ebenso wenig dürfen die zusätzlichen Mittel
des Europäischen ‚Just Transistion Fund (JTF)‘ von den
Strukturmitteln des Bundes abgezogen werden. Die Strukturmittel sollen
zusätzliche, wirtschaftliche und messbare Impulse für die Reviere
geben. Diese messen wir in Arbeitsplätzen. Der Kohleausstieg wird in
eingesparten Tonnen CO2 gemessen, die Strukturstärkung muss in
geschaffenen und gesicherten Arbeitsplätzen gemessen werden. Dabei
geht es nicht um irgendwelche Arbeitsplätze irgendwo, sondern um gute
sichere Arbeitsplätze in den Regionen, in denen sie durch den
Ausstieg verloren gehen.“
-Aufgrund der Tiefe der Tagebaue und der damit verbundenen sehr langen
Bodensetzungsfristen und fortwährenden Sicherheitsstreifen entlang
der Tagebaukanten wird eine bauliche Nutzung und Erschließung der
Tagebauränder in dem vom Strukturstärkungsgesetz festgelegten
Förderzeitraum bis 2038 nicht möglich sein.
„Im Ergebnis fallen folglich sämtliche Investitionsmaßnahmen der
vom Tagebau betroffenen Anrainerkommunen aus diesem Förderzeitraum
heraus, insbesondere dadurch dass eine vollständige
Wiedernutzbarmachung der Stadtflächen erst nach Abschluss der
Seebefüllungen in 40 bis 60 Jahren erst möglich sein wird. Hier sind
entweder Fördergelder des Strukturstärkungsgesetzes in einem
Investitionsfonds für diese Maßnahmen zu reservieren oder andere
Wege einer Finanzierung dieser zukünftigen Investitionen sind zu
finden.“
-Ein nochmals, möglicherweise auf das Jahr 2030 vorgezogener
Kohleausstieg führt zu einer erneuten Beschleunigung der hierfür
erforderlichen Braunkohleplanverfahren auf Landesebene. Dem sehen sich
die betroffenen Kommunen und Kreise nicht gewachsen. „Hier gilt es
sehr schnell detaillierte kommunale Rahmenplanungen zu entwickeln. Die
betroffenen Kommunen sind hierbei personell und finanziell zu
unterstützen, anderenfalls wird ein erneut beschleunigter
Ausstiegsprozess unweigerlich dazu führen, dass keine geordnete und
im Sinne der Anrainer ökologisch und ökonomisch nachhaltige
Rekultivierung im rheinischen Revier stattfinden wird. Da hier ein
Planungszeitraum von 60 Jahren erneut beschleunigt werden soll,
müssen im Rahmen der Braunkohleplanung sogenannte Öffnungsklauseln
enthalten sein die stets ein kommunales Beteiligungsrecht auf
Betriebsplanebene hin zu einer Einvernehmlichkeit festschreiben.“
-Eine Aufstockung des Gesamtfördervolumens von Bund und Land um
mindestens 30 Prozent. „Schließlich wird eine Verdopplung des
Tempos nur gelingen, wenn für die nötige Strukturstärkung mehr
Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Dass man es mit dem
Klimaschutz ernst meint, das will man mit dem Vorziehen des
Kohleausstiegs gerne allen zeigen. Ob man es aber auch mit den
Menschen in den Revieren ernst meint, wird sich zeigen.“
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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