Betroffene aus Blessem
Brigitte Altengarten: „Ich muss doch weitermachen“
Das terrakottafarbene Farbfeld an der Wand und die Reihe Grünpflanzen auf der Fensterbank erinnern daran, dass das hier einmal das gemütliche Zuhause von Familie Altengarten war. Bis am 14. Juli 2021 die Flut in den Blessemer Eschenweg kam. Dass sie dabei dieses Zuhause für immer verloren haben – darüber hat die Familie erst seit wenigen Monaten Gewissheit. Seit der Flutnacht kämpft Brigitte Altengarten um die Existenz und Zukunft ihrer Familie. Unterstützt wird die Katholikin dabei von der mobilen Hochwasserhilfe der Diakonie Köln und Region in Person von Andrea Schnackertz und von Pfarrerin Friederike Schädlich aus Lechenich.
von Hildegard Mathies
„Wir haben ja noch Glück gehabt“, sagt Brigitte Altengarten. „Niemand von uns ist tot.“ In der Flutnacht saß sie spät noch mit ihrer Tochter Lea, die als Studentin im Keller ihr Reich hatte, vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Was sich an Ahr und Erft, Rhein und Sieg abspielte nach dem stundenlangen Starkregen an diesem Mittwoch – damit hatte niemand gerechnet. Das kannte man ja nur von Nachrichtenbildern vom anderen Ende der Welt. Und auch wenn der Fluss nur etwas mehr als hundert Meter Luftlinie entfernt ist, konnte die Familie, bei aller Besorgnis, nicht damit rechnen, was dann geschehen würde.
„Gegen halb elf hat uns unser Nachbar rausgeklingelt und geschrien ,Die Erft kommt’ “, erzählt Altengarten. Sie hört das Rauschen des Flusses, der mit wahnsinniger Geschwindigkeit in die sonst so ruhige Straße donnert. Als Erstes bringen die Altengartens die zwei Katzen und zwei Hunde ins obere Stockwerk, dann retten sie noch schnell ein paar Sachen, nehmen etwas zu trinken und zu essen mit hoch. Das Wasser füllt rasch den Keller und reicht binnen kurzem rund einen Meter hoch im Wohnzimmer. Die Kraft der Fluten überrascht die Familie. An ein Rauskommen ist nicht zu denken – wohin auch.
„Ich habe mich gefühlt wie im Krieg“
12 Sunden muss die Familie im oberen Stockwerk ausharren. Es gibt keine Informationen. Keine Retter. „Einmal ist ein Feuerwehrauto in die Straße gefahren“, sagt Brigitte Altengarten. Doch Antworten auf ihr Rufen, ihre Fragen gibt es nicht. „Die sind einfach wieder gefahren“, ist sie bis heute fassungslos.
Der Freund ihrer älteren Tochter Lea hat einen schweren Unimog. Er kommt schließlich durch zur Familie Altengarten, evakuiert sie, ihre Tiere und auch noch Nachbarn. „Das war gespenstisch“, sagt Altengarten. „Wir mussten hinten auf der Ladefläche sitzen, dazu die Tiere im Käfig. Ich habe mich gefühlt wie im Krieg.“
Aber sie sind sicher: Wenn das Wasser abfließt, kommen wir zurück und bauen wieder auf. Am nächsten Tag jedoch bricht die Blessemer Kiesgrube stellenweise ein. Zehn Tage lang darf niemand in das betroffene Gebiet und dann nur einmal ganz kurz, eine Person pro Haus, um Papiere oder anderes Notwendiges zu holen.
Während Familie Altengarten bei Brigitte Altengartens Bruder in Kerpen unterkommt, dürfen Bewohner anderer Erftstädter Ortsteile und auch Blessemer zurück nach Hause. Für manche beginnt recht schnell wieder das fast normale Leben. „Das war absurd, wenn wir dann hier durch die Straßen gefahren sind, und es saßen schon wieder Leute im Eiscafé.“
Heizöl kontaminiert das ganze Haus
Für sie selbst gibt es keine Rückkehr: der mit 8000 Litern frisch befüllte Heizöltank ist von den Wassermassen umgerissen worden, die Flut hat sich mit dem Öl vermischt. Überall im Haus hat sich der penetrante Ölgeruch verbreitet und festgesetzt. Und nicht nur das: Tief dringt das Gemisch in den Stein ein und kontaminiert ihn, noch heute gibt es im Keller eine Stelle mit einem Loch in der Wand, hinter dem man noch ins Öl fasst.
Dunkle Stellen im Mauerwerk zeigen auch von außen, wie durchfeuchtet der Stein ist. Die Erft hat im Haus hohe Wellen geschlagen und das Öl dabei überall verteilt. In vielen Sachen hat sich der Ölgeruch so festgesetzt, dass sie nicht mehr zu gebrauchen sind. Aus dem Untergeschoss und dem Keller war ohnehin nichts mehr zu retten.
„Wie in einem Teufelskreis“
Altengartens entkernen das Haus, gemeinsam mit vielen Helfern, deren Namen und Handynummern noch immer an der Wohnzimmerwand stehen. Nur so lässt sich feststellen, wie groß die Schäden sind. Monate lang stellt sich die Frage: Kann das gerade erst abbezahlte Haus saniert werden oder muss es abgerissen werden? Komplizierter wird alles, weil es eine Doppelhaushälfte ist – und die beiden Häuser eine gemeinsame Bodenplatte haben.
Das erste Gutachten besagt, dass das Haus saniert werden kann – ein Fehlschluss, wie sich nach weiteren Untersuchungen und einem Gutachten durch einen Chemiker herausstellt. Für die Familie ist das fatal. „Wir bekommen zwar Gelder für eine Sanierung bewilligt“, erzählt Brigitte Altengarten, doch die werden bei weitem nicht für den Abriss und Neubau reichen. Und eine Korrektur des ersten Bescheides ist nicht möglich, erklärt ihr die zuständige Stelle beim Bauministerium Land NRW Wiederaufbau. Familie Altengarten wird auf vielen Kosten sitzen bleiben.
Brigitte Altengarten ist sicher: „Hätten wir früher in unser Haus zurückgekonnt und das Wasser schon abpumpen können – wir hätten es retten können.“ Nun fühlt sie sich wie in einem Teufelskreis. Einen Kredit, um notwendige Ausgaben decken zu können, bekommt das Ehepaar Altengarten nicht – „zu alt, zu wenig Einkommen, das Grundstück ist nichts mehr wert“ lauten die Begründungen der Banken. Eine Elemtarversicherung hatten sie nie und bekommen sie nach wie vor nicht – „Sie wohnen zu nah an der Erft“, heißt es. Die Gründe dafür, warum der Fluss so in das Leben der Blessemer Menschen eindringen konnte und warum die Kiesgrube teilweise eingestürzt ist, spielen dabei keine Rolle.
Mit der Notwendigkeit zum Abriss trägt die Familie das volle Risiko. Denn sollte dabei das Nachbarhaus beschädigt werden, das der Besitzer trotz eigener Schäden nicht abreißen will – was das Einfachste wäre, zumal es auch unterspült wurde – müsste die Familie für die Schäden aufkommen. Hinzu kommt, dass durch die aktuellen Krisen und die Inflation Materialmangel herrscht und Handwerkerpreise unkalkulierbar steigen.
Weitere Schicksalsschläge
Schon jetzt weiß Familie Altengarten kaum, wie sie die weiteren Lebenshaltungskosten bestreiten soll – die Miete in der Ausweichwohnung wird zum kommenden Jahr erhöht, alle Kosten steigen. Und nun kam noch die Hiobsbotschaft dazu, dass der Betrieb, in dem Brigitte Altengartens Mann Ernst Becker-Altengarten seit mehr als 40 Jahren arbeitet in die Insolvenz geht und er mit 59 Jahren bald arbeitslos ist.
Die unzähligen Telefonate und Behördengänge, das Einarbeiten in die Rechtslage, den Antrag auf Wiederaufbauhilfe stellen, der Umgang mit Versicherung und Gutachtern – all das übernimmt Brigitte Altengarten. „Mittlerweile könnte ich ein Buch schreiben“, sagt die bald 58-Jährige. Andrea Schnackertz hat sie dabei unterstützt, beim Ausfüllen der Anträge für Fördermittel etwa oder mit Haushaltsbeihilfen der Diakonie.
Neben dem Schock und der Bürokratie galt es, eine Übergangswohnung zu finden. Die Familie bleibt erst einmal in Kerpen – doch das bedeutet auch mehrmals täglich hin und her zu fahren, wegen des Hauses genauso wie wegen der noch schulpflichtigen jüngeren Tochter Lucy, die nach den Sommerferien die 12. Klasse des Gymnasiums in Lechenich besuchen wird. Und es bedeutet auch, von mancherlei Hilfe abgeschnitten zu sein. „Von mancher Spendenausgabe habe ich gar nichts erfahren. Niemand hat mich informiert“, ist Brigitte Altengarten, die sich Jahrzehnte in der katholischen Gemeinde St. Michael engagiert hat, enttäuscht. Als es Kleidung gab, Matratzen, Waschmaschinen oder anderes, wusste sie nichts davon und ging leer aus. „In so einer Situation lernt man das wahre Gesicht der Menschen kennen.“
Aufgeben kommt nicht in Frage
Brigitte Altengarten erzählt ihre Geschichte ruhig und sachlich, auch wenn bisweilen Trauer, Enttäuschung und auch eine Spur Bitterkeit zu spüren sind. Sehnt sie sich nicht manchmal danach einfach aufzugeben und alles hinter sich zu lassen? „Das geht nicht“, sagt sie, „das Haus sollte ja auch mal für die Zukunft unserer Kinder sorgen.“ Und sie ist vor allem nicht der Typ Frau, die aufgibt.
Außerdem ist da auch viel Dankbarkeit – für die Helfer, mit denen sie bis heute in Kontakt steht. „Die sagen: Wenn was ist, kommen wir wieder“, erzählt sie. Dankbar ist sie auch für die Unterstützung durch Pfarrerin Friederike Schädlich und Fluthelferin Andrea Schnackertz. „Die Pfarrerin hat sich immer wieder nach uns erkundigt und kommt immer noch vorbei, um zu fragen , wie es uns geht.“ Schnackertz hat sie in der ganzen Zeit mit wertvollem Rat unterstützt und ihr immer wieder Mut gemacht. Kürzlich erst war sie auch mit einer Delegation der Diakonie im Haus, um jede Hilfsmöglichkeit zu mobilisieren. „Die haben gesagt, sie vergessen uns nicht“, freut sich Brigitte Altengarten. „Und sie haben versprochen, uns beim Wiederaufbau zu helfen.“
„Sie verdient jede Hilfe“
Um sich das Trauma der Flutnacht bewusst zu machen, geschweige denn es aufzuarbeiten, war noch gar keine Zeit bei Familie Altengarten. Doch Brigitte Altengarten weiß, dass sie sich diese Zeit bald geben muss. Ihre Herzkrankheit, wegen der sie eigentlich schon lange in Frührente ist, hat sich durch das Erlebte und die Belastungen der vergangenen zwölf Monate verschlechtert, hat sie gerade erfahren. „Um eine OP werde ich früher oder später nicht herumkommen“, sagt sie. Eher früher, wenn es nach ihrem Arzt geht. Eher später, wenn es nach ihr geht. „Ich muss doch weitermachen!“, sagt Brigitte Altengarten.
Rund 100 Meter weiter liegt die Blessemer Kiesgrube. Die Bilder von der Abbruchkante, die drei Häuser mit sich riss, gingen um die Welt und wurden zum Sinnbild der Katastrophe. Insgesamt wurden mehr als zehn Häuser komplett zerstört. Kurz vor dem ersten Gedenktag sind Baufahrzeuge eifrig damit beschäftigt, die Grube weiter aufzuschütten. Wie es eine Querstraße weiter aussieht, fragt niemand.
Brigitte Altengarten wollte am Jahrestag der Flut erst nicht zur Gedenkveranstaltung gehen. Den Teufelskreis der Bürokratie hat sie zu oft schon erlebt. „Wir müssen uns selbst helfen“, war für sie klar. Denn aufgeben wird sie nicht. Andrea Schnackertz hat sie nun motiviert, doch teilzunehmen. „Frau Altengarten ist so eine starke Frau, sie verdient jede Hilfe!“, sagt Schnackertz.
„Vielleicht kann ich ja dort doch noch jemandem unsere Geschichte erzählen“, hofft Brigitte Altengarten auf die Gedenkstunde. Um irgendwann doch wieder ein Zuhause im Eschenweg zu haben, in dem sie mehr als 25 Jahre gelebt und ihre Kinder großgezogen hat. Die Pflanzen auf der Fensterbank gießt sie noch ab und zu. „Vielleicht sind wir ja 2025 wieder hier.“
Am Freitag, 15. Juli, wird um 17 Uhr in der Blessemer Kirche St. Michael ein ökumenischer Gottesdienst zum Gedenken an die Flut gefeiert.
Andrea Schnackertz ist zu Gast auf der Kirchenbank und berichtet dort über Ihre Arbeit im Team der mobilen Hochwasserhilfe der Diakonie. Der Beitrag ist ab dem 15. Juli abrufbar auf www.youtube.com/kirchekoeln
www.kirche-koeln.de; www.diakonie-koeln.de
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.