Sture Sturmmöwen
Möwen im Brutstress
Jedes Jahr zieht es bis zu 500 Möwenpaare zur Eiablage ins Frechener Gewerbegebiet. Doch ihre Brutstätte, das Kaufhof-Areal entlang der Bonnstraße, wurde abgerissen. Experten gingen davon aus, dass die Vögel auf die Dächer umliegender Gebäude ausweichen würden, haben aber nicht mit der Sturheit der Sturmmöwen gerechnet. Zwischen Schutt und rotierenden Baggern sind die Küstenvögel auf der Suche nach Nistmöglichkeiten. Schaffen sie es tatsächlich dort zu brüten, droht der Baustopp!
Frechen. Zugegeben: Das Gewerbegebiet an der Europaallee in Frechen ist wenig attraktiv. Doch trotz der zweckmäßigen Bebauung, der großen Parkflächen und des hohen Verkehrsaufkommens kommen bei vielen Beschäftigten auf der Europaallee, der Werner-von-Siemens-Straße und der Hermann-Seger-Straße im Frühsommer Urlaubsgefühle auf. Der Grund: Kreischende und am Himmel kreisende Möwen lassen von Sonne, Strand und Meer träumen.
Angelockt von einer Kaffeerösterei auf dem ehemaligen Kaufhof-Gelände, brüten die See- und Küstenvögel seit über 50 Jahren in Frechen. Damals ernährten sich die Tiere von den weggeworfenen Schalen und dem Fruchtfleisch der Kaffeebohnen.
Geröstet wird zwar schon lange nicht mehr, aber die Möwen kommen weiterhin. Auf rund 1.000 Vögel: Sturmmöwen, Heringsmöwen und Kleine Mantelmöwen, wird die Nistkolonie in Frechen geschätzt. Die meisten nisteten bisher, gut geschützt, auf dem Dach der Kaufhof-Lagerhallen. Diese wurden in den vergangenen Monaten abgerissen.
Für die Möwen stellt sich nun die Frage: Wohin?
Besucher des benachbarten Fitnesscenters und Angestellte umliegender Unternehmen berichten von laut kreischenden Möwen, die tagsüber über dem Abrissgelände kreisen, auf Schutthaufen rasten und sich abends, wenn die Baumaschinen ruhen, zu Hunderten auf dem Areal einfinden. „Das Problem ist, dass Sturmmöwen extrem sturköpfig sind“, erklärt uns eine Biologin. Die Hoffnung, eines im Vorfeld erstellten artenschutzrechtlichen Fachgutachtens, dass die Vögel einfach auf benachbarte Gebäudedächer umziehen würden, habe sich bisher nicht erfüllt.
Stattdessen würden die Möwen weiterhin nach einer Möglichkeit suchen, auf dem verwüsteten Areal zu nisten.In Absprache mit dem Investor, der Logicor Deutschland GmbH, seien daher auf dem Gelände zwei große Ersatzhabitate eingerichtet worden. Dafür wurden der Bauschutt entfernt, Erde angehäuft, Bauzäune aufgestellt und ein Sichtschutz am Zaun entlang der Werner-von-Siemens-Straße angebracht.
„Die regelmäßigen Beobachtungen unserer Gutachter haben gezeigt, dass die Möwen diesen Raum gerne als Aufenthaltsfläche und zur Nahrungssuche nutzen und auf den umliegenden Dachflächen nisten“, teilt uns ein Pressesprecher von Logicor schriftlich mit.
Dem widerspricht eine Stellungnahme des NABU Rhein-Erft. Dieser teilt mit: „Im Umfeld anderer Industriebauten an der Bonnstraße gibt es weitere großräumige Flachdächer, auf denen die Möwen auch brüten könnten. Sie erscheinen aber derart standorttreu, dass sie wieder auf das Gebiet des früheren Kaufhoflagers zurückkehrten.“ Die dort vorbereiteten Kies-Sandflächen würden von den Möwen bisher nicht angenommen. Die NABU-Fachleute glauben aber weiterhin, dass die Möwen im Umfeld geeignete Brutplätze finden werden. Der NABU gibt den Brutbeginn mit „Anfang Mai“ an. Gemeinsam mit den „bauüberwachenden Behörden“ würde man die Situation an der Bonnstraße weiter begleiten.
Der vom NABU angegebene späte Brutbeginn wäre, so die Biologin, tatsächlich ein Segen. „An der Küste und auf den Inseln Ameland und Texel brüten die Vögel bereits ab Mitte April“, erklärt sie. Somit wären die Frechener Möwen bereits in Verzug. Die Situation sei für die Tiere sehr belastend, Stresshormone würden freigesetzt. Kortikosteron würde die Fortpflanzung unterdrücken.
Die extreme Ortsgebundenheit der Sturmmöwen beeinflusse auch die kleineren Herings- und Mantelmöwen, weil diese sich an ihren größeren Verwandten orientieren würden. Eine hohe Kortikosteron-Konzentration der Vögel könne zudem, bei einer später erfolgenden Eiablage, verstärkt zu Missbildungen bei den Nachkommen führen.
Sollte im Binnenland aber tatsächlich die Brutzeit später beginnen, sei es angeraten, die Ersatzhabitate schleunigst den vorherigen Gegebenheiten anzupassen. Dafür müssten die beiden vorbereiteten Nistareale mit einer ähnlichen, gedämmten Oberfläche wie der des abgerissenen Hallendachs ausgestattet werden. Eventuell würde dies die verstörten und sturen Vögel dann doch auf das Gelände locken. Den Investor habe sie darüber informiert, dieser habe aber bisher noch nicht reagiert.
Sollte die Situation sich in den kommenden Tagen nicht entspannen, empfiehlt sie einen Baustopp, um den Vögeln eine stressfreie Aufzucht zu ermöglichen.
Denn nach Paragraf 44 des Bundesnaturschutzgesetzes ist es verboten wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten erheblich zu stören. Eine erhebliche Störung liegt vor, wenn sich durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert. Außerdem ist es verboten, Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten, zu denen auch die drei in Frechen brütenden Möwenarten gehören, aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören.
„Um baubedingte Störungen oder Tötungen von brütenden Vögeln und Jungvögeln zu vermeiden, wurde vereinbart, im Baustellenbereich sämtliche Dachflächen (potentielle Brutstätten) bis zu Beginn der Brutsaison (1. März 2023) zu demontieren und Vergrämungsmaßnahmen durchzuführen. Dies wurde fristgerecht umgesetzt“, erklärt Dr. Katharina Walkling-Spieker, stellvertretende Pressesprecherin des Rhein-Erft-Kreises.
„Keine geeigneten Ersatzbrutstätten“
Die Untere Landschaftsbehörde geht davon aus, dass Baubetrieb und Verkehrslärm dazu führen werden, dass die Möwen nicht auf dem Gelände brüten und stattdessen auf umliegende Dächer ausweichen werden. Die „vermeintlichen Ersatzhabitate“ werden vom Kreis als „keine geeigneten Ersatzbrutstätten“ eingestuft. Seitens der Verwaltung wird nach derzeitigem Sachstand ein Baustopp als nicht erforderlich eingestuft.
Es bleibt also abzuwarten, ob die sturköpfigen Sturmmöwen noch von ihrem alten Brutgebiet Abstand nehmen werden, welche Folgen die eventuelle Brutverzögerung auf die Möwenpopulation haben wird und ob die Vögel auch in Zukunft noch frische Küstenstimmung ins graue Industriegebiet nach Frechen bringen werden.
Wer sich einmal selber ein Bild von der Situation machen und eine der größten Binnenlandkolonien von Herings- und Sturmmöwen in Nordrhein-Westfalens beobachten möchte, findet entlang der Werner-von-Siemens-Straße genügend Parkmöglichkeiten und einen guten Blick auf das Areal.
Redakteur/in:Lars Kindermann aus Rhein-Erft |
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