„Gehirne“
Zukunftsweisende Premiere im Orangerie Theater
Innenstadt - (ha) Unbefriedigend: Der Mensch spaltet Atome, entwickelt
Flugapparate, die neue Sonnensysteme erkunden, pflanzt Ratten
Mikrochips in den Kopf, um per Mausklick deren Verhalten zu
beeinflussen, entschlüsselt den Lebenscode der DNA, ist quasi
gewappnet für die Unendlichkeit und bleibt dennoch selbst endlich.
Der Tod bleibt als vielleicht einziges Naturphänomen weiterhin
widerspenstig. Mit aller Konsequenz und Brachialität widmet sich das
F.A.C.E. Ensemble unter der Regie von Kristóf Szabó im
Orangerie-Theater (Volksgartenstraße 25) mit der Schauspiel-/
Tanz-Performance „Gehirne“ diesem Sujet und offenbart Visionen der
Zukunft. Das mehr als zweistündige Epos über die Transformierung des
Geistes und eine neue Kartografie der Lebenswelten lässt zu keinem
Moment Zweifel am Größenwahn des Menschen aufkommen. Es degradiert
die Schöpfung zu einem „Gott, der war“. Nicht mehr das „Wir“,
nur das „Ich“ zählt in einem Paradies, das erreichbar scheint.
Unter Einbeziehung von Szenen aus den Werken „Der
Vermessungsdirigent“ und „Etappe“ des Mediziners, Lyrikers und
Essayisten Gottfried Benn (1886-1956) koppelt der Protagonist Dr.
Pameelen, betörend-verstörend gespielt von Thomas Krutmann, während
eines Experiments der „Brain Future Unlimited Company“ sein
Bewusstsein an einen Avatar, um in einem neuen Körper zeitlos
fortzuleben. Die natürliche Geburt lehnt der Frauenarzt und Mörder
als Mittel der Reproduktion ab. Nur das Transformieren des Geistes in
einen perfekten Träger kommen für Pameelen in Frage. Sein
Fortpflanzungsorgan als Symbolik triebgeladenen Willens stampft der
Psychopath in einem Befreiungsakt mit Begeisterung zu Asche und lässt
sich von einer Community der Gehirne als neue Exzellenz, dem
Urschöpfer überlegen, verehren.
In einer multimedialen Inszenierung, gefüllt mit dreidimensionalen
Sternreisen, Echos philosophischer Dystopien und mathematischen
Gleichnissen über die Möglichkeiten des Individuums, reißt das
Ensemble um Krutmann, Theresia Erfort, Adrián Castelló und Luna
Bardot die Betrachter in einen elektrisierenden Wirbel erschütternder
Emotionen sowie kühler Logik, die nicht jenseits, sondern in der
Mitte der Kreatur Mensch stürmt. „Gehirne“ offenbart sich als
digitaler Stiefbruder von Goehtes „Faust“, dessen Fähigkeit zu
Bewusstsein und Reflektion in die Tragik des unvollkommenden Seins
mündet. Das Stück stößt die Schlüsselfigur mit zunächst
zittrigen, dann schleppend-hinkenden und schließlich unbeirrbaren
Schritten zur Überwindung ihrer Menschlichkeit. Die Auflösung des
Körpers zu einem Strom ewiger Bildnisse verführt die Zuschauer mit
unnachahmlicher Ästhetik, lässt dabei jedoch auch Laufstege für
Fluchtwege offen. Die Spieltermine sind 17. bis 20. Oktober (jeweils
ab 20 Uhr). Karten können unter Telefon 0221/ 9522708 reserviert
werden. Infos unter www.orangerie-theater.de
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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