Aufgeben ist keine Option
Maria Tietze startet bei der Para-Leichtathletik WM in Dubai
Im Leben von Maria Tietze drehte sich alles um Fußball. Schon immer
hat sie gekickt, zunächst im heimischen Garten, später erst beim TuS
Immekeppel, ab 2006 beim SV Eintracht Hohkeppel. Urlaub richtete sich
nach dem Spielplan, für Spiele verzichtete sie auf Klassenfahrten,
bei Auslandsaufenthalten wurden die Ziele so gewählt, dass sie vor
Ort Fußball spielen konnte. Als Verteidigerin sei sie immer schneller
gewesen, als die gegnerischen Stürmerinnen, erinnert sich die
30-Jährige Overatherin an ihre große Stärke.
All das sollte sich im Juli 2015 schlagartig ändern. Bei einem
Motorradunfall wird ihr linker Fuß teilweise zertrümmert, das
Muskelgewebe irreparabel verletzt. Es beginnt ein langer und mühsamer
Heilungsprozess.
Zwischen Juli und Oktober versuchen die Ärzte in 17 Operationen durch
Transplantationen von körpereigenem Muskelgewebe den Fuß
wiederherzustellen, die Knochen werden durch einen Fixateur und
Schrauben zusammengehalten. Doch es kommt immer wieder zu
Komplikationen. „Ich habe nichts ausgelassen; was schiefgehen
konnte, ging schief“, beschreibt Maria ihren damaligen
Leidensweg.
Dennoch habe sie immer daran geglaubt, wieder Fußball spielen zu
können und dieser Gedanke habe ihr die Kraft verliehen, nicht
aufzugeben. Im Oktober 2015 wird der Fixateur entfernt, mithilfe einer
Orthese und Gehstützen darf Maria den Fuß mit zehn Kilogramm
belasten. Doch durch die monatelange Ruhigstellung ist der
Bewegungsablauf des Fußes stark eingeschränkt. Im Dezember spricht
ein Spezialist endlich Klartext. „Er nannte mir zwei verbleibende
Optionen“, so die junge Frau.
„Amputation oder operative Versteifung des Sprunggelenkes“.
Zunächst geht Maria Tietze auf den zweiten Vorschlag ein, die
Operation wird für das Frühjahr geplant. Doch nach und nach kommen
ihr Zweifel: „Es war klar, dass es dann mit Sport für mich
vorbei sein würde und damit konnte ich mich einfach nicht abfinden
– Fußball war doch mein Leben.“
Sie beginnt, sich über das Thema Amputation zu informieren, holt sich
Meinungen von Orthopädietechnikern ein, spricht mit ihrer Ärztin und
Menschen, die Amputationen hinter sich haben und trotzdem erfolgreich
Sport treiben.
„Irgendwann hatte ich alle Informationen und musste mich nur noch
entscheiden“, erinnert sie sich. Doch wie eine solche
Entscheidung treffen? Wie kann man sich sicher sein, dass es richtig
ist, sich vom eigenen Fuß zu trennen? „Bei dieser Frage gab es
einfach keine Pro/Kontra-Liste, die mir helfen konnte.“
Dennoch ist der gedankliche Prozess nicht mehr aufzuhalten und zu
Ostern 2016 steht ihr Entschluss zur Amputation fest. Während ihr
Vater ihre Beweggründe nachvollziehen kann, ist es für die Mutter
schwer zu verstehen. „Aber für mich stand fest, dass es der
richtige Weg war“, so Maria Tietze. Doch es blieb ein Rest
Unsicherheit: „Ich hatte große Angst, nach der OP aufzuwachen
und zu realisieren, dass es die falsche Entscheidung war“.
Als sie jedoch am 27. April 2016 unter die Bettdecke schaut, bleibt
die befürchtete Panik aus. „Ich war mir immer noch sicher, alles
richtig gemacht zu haben.“ Neben ihren Eltern hat sie sich in
der ganzen Zeit nach dem Unfall auch auf die Unterstützung ihrer
Teamkameradinnen immer verlassen können: „Die Mädels waren
einfach großartig, das hat mir viel Kraft gegeben.“
Die erste Prothese erhält Maria nach sechs Wochen, es werden aber
zwei weitere Operationen am Stumpf nötig, bevor sie im März 2017 die
Reha antreten kann „Zu diesem Zeitpunkt wusste ich gar nicht
mehr, wie man läuft“, erinnert sie sich. Die Therapeuten wissen
um das ehrgeizige Ziel der jungen Overatherin: „In der Gehschule
war immer auch ein Fußball in der Nähe, der wurde in die Übungen
einbezogen, das hat mich besonders motiviert.“
Am 3. Mai wird sie entlassen, zwei Tage später ist sie auf dem
Fußballplatz. Zu Beginn engagiert sie sich als Co-Trainerin der
Mädchenmannschaft, nach und nach steigt sie selbst wieder ins
Training ein, anfangs als Torhüterin. „Meine Kondition war
absolut am Boden nach dieser langen Zeit.“ Doch mit Ehrgeiz und
unbändigem Willen kämpft sie sich heran und steht mit einer
Ausnahmegenehmigung entgegen aller Prognosen eines Tages wieder in der
Landesliga für Eintracht Hohkeppel auf dem Feld – ein
unvergessliches Erlebnis: „Außer mir hat wirklich niemand daran
geglaubt, dass ich jemals wieder Fußball spielen würde.“
Um sich keine falschen Bewegungsmuster anzueignen, trainiert sie im
Sommer 2017 zum ersten Mal zusätzlich bei der
Behindertensportabteilung von TSV Bayer 04 Leverkusen. Dort werden die
Trainer schnell auf sie aufmerksam und erkennen ihr Talent für die
Leichtathletik. Eine Zeitlang betreibt Maria beide Sportarten
parallel, trainiert zweimal pro Woche in Hohkeppel und mehrmals
wöchentlich in Leverkusen, dazu kommen ab Jahresbeginn 2018 auch
Wettkämpfe über 100 Meter, 200 Meter und im Weitsprung.
Doch die Doppelbelastung wird bald zu viel und im Frühjahr 2018
hängt sie ihre Fußballschuhe an den Nagel: „Ich habe mich beim
Fußball immer mit mir aus der Zeit vor dem Unfall verglichen, das hat
mir nicht gutgetan“, begründet sie die Entscheidung, die
geliebte Sportart aufzugeben. In der Leichtathletik habe sie ganz neu
anfangen können und als auch die Erfolge nicht lange auf sich warten
ließen, war die neue Leidenschaft geboren.
Bei der Para-Leichtathletik-Europameisterschaft im Sommer 2018 wurde
sie bereits Fünfte über die 200 Meter und Vierte im Weitsprung,
außerdem holte sie unter anderem über 200 Meter den Deutschen
Meistertitel. Das große Ziel ist die Teilnahme an den Paralympics in
Tokio im kommenden Jahr.
Doch zunächst einmal geht Maria vom 7. bis 15. November für die
Deutsche Para Leichtathletik Nationalmannschaft bei den „World Para
Athletics Championchips“ in Dubai in drei Disziplinen an den Start.
Dabei hofft die 30-Jährige vor allem im 200 Meter-Lauf auf die
Finalteilnahme. „Aber es ist meine erste WM, da habe ich nicht so
hohe Erwartungen – einmal unter den Top acht wäre schon ein großer
Erfolg.“ Grundsätzlich wünscht sie sich für den
Behindertensport in Deutschland mehr Wertschätzung und erhöhte
Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.
„Es bewegt sich war langsam etwas, aber es muss noch viel
passieren.“ Vor allem über eine größere Zuschauerresonanz
würde sie sich freuen: „Wettkämpfe behinderter Sportler sind
genauso spannend wie die von Nicht-Behinderten.“ Was
Durchhaltevermögen und Siegeswillen betrifft, ist Maria Tietze mit
ihrer beeindruckenden Geschichte das beste Beispiel.
- Sandra Sonntag
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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