Stadtgeschichte
Europadorf ist in Vergessenheit geraten
Euskirchen - Sogar einige Bewohner der Unitasstraße wissen nichts mit dem
Begriff „Europadorf“ anzufangen. Dabei leben sie mitten in dem
Gebiet, das einmal ein Europadorf war - also auf historisch durchaus
interessantem Boden. In der Euskirchener Nordstadt am Ende der
Unitasstraße lag das Dorf, das als Siedlungsgebiet angelegt worden
war. Ein Hinweisschild sucht man allerdings vergebens.
„Zwischen 1956 und 1962 wurden in Europa sieben Siedlungen zur
Aufnahme von staatenlosen Flüchtlingen gebaut, alle nach
einheitlichen Plänen, in einfacher Bauweise und auf der grünen Wiese
errichtet“, erklärt die Leiterin des Euskirchener Stadtarchivs, Dr.
Gabriele Rünger. Zeitzeuge Karl Ryfisch erinnert sich: „Da, wo
jetzt überall Häuser stehen, wurde damals Landwirtschaft betrieben.
Es ist wirklich in die Natur geplant worden.“ Sinn des Dorfes sei es
gewesen, heimatlose Familien, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus
ihren Ländern hatten flüchten müssen, in ein normales Leben
jenseits von Lagerzäunen zurückzuführen, berichtet Rünger.
20 Einfamilienhäuser entstanden Anfang der 1960er-Jahre am Ende der
Unitasstraße. Am 14. Februar 1964 zog die erste Familie ein. Wenige
Wochen später seien bereits alle Häuser bewohnt gewesen, berichtet
Rünger. Insgesamt, so die Historikerin, fanden 108 Menschen, darunter
71 Kinder, im Europadorf Zuflucht. Rünger: „Anfangs waren es vor
allem Flüchtlinge aus den südlichen Ostblockländern wie Jugoslawien
und Albanien.“
Auch heute gestaltet sich das Leben in dem Viertel ähnlich
facettenreich wie bei seiner Gründung vor etwa 50 Jahren. Im Bereich
der Unitasstraße leben Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen.
Die Mennoniten beispielsweise haben hier ihre Grund- und Realschule.
Mittlerweile seien die Nationalitäten wesentlich breiter gefächert,
erklärt Rünger.
Durch die Veränderung der baulichen Struktur ist die Siedlung auch
nicht mehr als Europadorf, das einst auf der grünen Wiese entstanden
war, zu erkennen. Zwischen den ehemaligen Siedlungshäusern sind
weitere Häuser gebaut worden. „Der Charakter eines eigenständigen
Dorfes mit seinen schmalen Straßen ist aber noch immer
unverkennbar“, sagt Rünger. Seit dem Sommer 2016 wird das
Wohngebiet nördlich der Unitasstraße durch das Neubaugebiet
Gertrudisgärten sogar erweitert. Betreut wurden das Dorf und seine
Menschen lange vom Verein „Hilfe für heimatlose Ausländer“.
In Euskirchen kümmerte sich die Sozialpädagogin Dorothea Stolz
ehrenamtlich um die 20 Familien. „Sie war da, wenn jemand Hilfe
benötige“, erinnert sich Bruno Grobelny. Er kam 1953 als erster
Sozialarbeiter nach Euskirchen. Vom katholischen Sozialdienst sei er
damals gefragt worden, ob er nicht auch das Europadorf betreuen
könne. „Ich hatte damals bereits so viele Aufgaben, dass ich leider
ablehnen musste“, erinnert sich Grobelny, der sich vor wenigen
Jahren auf die Spuren des Gründers der Europadörfer, Dominique Pire,
begeben hat – eine Recherche, die ihn zutiefst beeindruckt hatte.
Daher macht sich der ehemalige Geschäftsführer der Euskirchener
Caritas für eine Erinnerung an den Gründer der Europadörfer stark.
Grobelny schlägt vor, eine Straße nach Pire zu benennen. Der
Stadtverbandsvorsitzende der CDU Euskirchen, Landtagsmitglied Klaus
Voussem, findet die Idee gut. „Ich halte es für angebracht,
verdiente und historische Personen mit Euskirchener Wurzeln oder
gesellschaftlichem Wirken im Bild der Stadt zu verwirklichen“, sagt
er.
Er wolle die Idee aufgreifen und Bürgermeister Dr. Uwe Friedl (CDU)
vorschlagen, bei der Benennung von Straßen im Stadtgebiet auch den
Namen von Pire mit in Betracht zu ziehen. Für das sich im Bau
befindliche Neubaugebiet Getrudisgärten kommt der Vorschlag Grobelnys
allerdings zu spät. Dort sind bereits alle Straßennamen vergeben
worden.
Auch die CDU-Stadtverordnete Erika Peters möchte sich für eine
Dominique-Pire-Straße in Euskirchen stark machen. „Leider sind die
Straßen rund um das ehemalige Europadorf schon alle benannt. Auch im
Neubaugebiet geht es leider nicht mehr, aber wir bleiben an dem Thema
dran“, versichert die Euskirchenerin.
Dominique Pire kam als Georges Charles Clement Ghislain Pire am 10.
Februar 1910 im belgischen Dinant zur Welt. Am 30. Januar 1969 starb
der Gründer von Hilfsorganisationen und Friedensnobelpreisträger an
den Folgen einer Operation. Zwischen 1955 und 1962 organisierte er die
Entstehung der sogenannten Europadörfer in Deutschland, Österreich
und Belgien. Dabei entstand das erste Dorf 1956 bei Aachen, ein
weiteres im gleichen Jahr in Bregenz am Bodensee und ein drittes 1957
in Augsburg. Bis 1962 entstanden auf diese Weise sieben Europadörfer.
Das letzte Europadorf wurde in Euskirchen am Ende der Unitasstraße
gebaut. 1958 wurde Pire für diese Aktivität der Friedensnobelpreis
wegen seiner Hilfe für Flüchtlinge zugesprochen.
- Tom Steinicke
Redakteur/in:RAG - Redaktion |
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