Gerda Boss ist 101
Acht Kanzler und einen Diktator erlebt
Wesseling - Als die Redaktion zum 100. Geburtstag von Gerda Boss da war, da habe
ich mich mit „Tschüss, bis zum nächsten Jahr“ verabschiedet. Und
tatsächlich, die damals schon älteste Mitbürgerin der Wesselinger
Innenstadt – sie feierte gestern ihren 101. Geburtstag!
Gerda, die gebürtig aus Soest kommt und in Hamm aufgewachsen ist,
wurde 1918 geboren, kurz bevor der erste Weltkrieg beendet werden
konnte.
Mit Nelson Mandela hat sie nicht nur das Geburtsjahr gemein, sondern
auch das Engagement für Schwächere: Zeitlebens hat sie sich für
andere eingesetzt, ihr Augenmerk auf die gerichtet, denen es nicht so
gut geht.
„Seinen Nächsten lieben wie sich selbst“, sagt die Frau, die
Hindenburg, Hitler, Adenauer, Kiesinger, Brand, Schmidt, Kohl und
Schröder als Kanzler erlebt hat und dabei war, als die Bundesrepublik
Deutschland mit Angela Merkel die erste Frau in dieses Amt wählte.
Gerda Boss ist 21 Jahre, als der zweite Weltkrieg ausbricht und ihr
erster Mann David nach Russland an die Front geschickt wird. Er kehrt
nicht mehr zurück, und die junge Witwe sucht Ablenkung im Lazarett,
wo sie Kriegsverletzte pflegt. Hier – als Rot-Kreuz-Helferin - lernt
sie ihren zweiten Mann Rudi kennen.
Aus Sympathie und Fürsorge wird Freundschaft und Liebe. Das Paar
heiratet und weil der Rudi nicht wollte, dass Gerda arbeitet, widmet
sie sich in der Heimatstadt ihres Ehemannes dem Aufbau des Wesselinger
Rot-Kreuzes und arbeitet dazu ehrenamtlich ab den 50er Jahren im
hiesigen Krankenhaus in der - damals noch vorhandenen – Bibliothek.
An ihrem 100. Geburtstag bekam die Jubilarin für ihr 75 Jahre
währendes Engagement für das DRK eine eigens für sie angefertigte
Nadel, denn eine solange Mitgliedschaft – das gab es bis dato noch
nicht.
Gerda Boss ist Initiatorin des Wesselinger Rot-Kreuz-Seniorencafés,
und noch bis zu ihrem 95. (!) Geburtstag leitete sie die dortige
Tagesstätte, spazierte durch die Stadt bis zur Oberwesselinger
Straße und wieder zurück. Auch das hat sie fit gehalten.
Mit 101 darf man es dann schon etwas ruhiger angehen lassen, dreimal
täglich kommt der Pflegedienst, immerwährende Unterstützung hat
„Tante Gerda“ auch von ihrer Nichte Elke Heider – eigene Kinder
blieben Gerda Boss leider verwehrt, und mittlerweile hat sie auch ihre
sechs Geschwister überlebt.
Die 101-Jährige wohnt seit den 50er Jahren im „Spinatbunker“,
jenem Hochhaus, das seinen Spitznamen in Wesseling wegen des markanten
grünen Anstriches und der Hausform hat: „Mir geht es gut. Mir tut
nichts weh, ich bin sehr zufrieden. So kann es bleiben“, sagt Boss
an ihrem Jubeltag. Nur zum Lesen braucht sie eine Brille, und beim
Hören hilft eine kleine Elektronik im Ohr.
Es macht einfach Spaß, sich mit dieser energiegeladenen Frau zu
unterhalten, die frank und frei vom Essen schwärmt, ein gutes Steak
mit einer ordentlichen Beilage präferiert und sich ab und zu ein
schönes Glas Wein gönnt.
Gerda Boss schaut gerne Fernsehen, denn dort erfährt sie ständig
Neues und ebenso schätzt sie mittlerweile die drei Tage in der Woche,
die sie in einer Pflegeinrichtung mit vielen – teilweise deutlich
jüngeren – Senioren verbringt: „Wir spielen und wir reden auch
von alten Zeiten“, so Gerda.
Als es klingelt und Bürgermeister Erwin Esser mit der Flasche
Wesseling Wein, dem Gratulationsbrief und dem neuen Wesseling Band zur
Türe reinkommt, steht die Jubilarin rasch auf, begrüßt das
Stadtoberhaupt mit einem festen Händedruck und verwickelt den
Sozialdemokraten gleich in ein Gespräch. Sie bietet die von Nichte
Elke gefertigten Schnittchen an, freut sich, wenn alle eine Tasse
Kaffee haben („Die brauche ich auch jeden Tag“) und schaut
zufrieden in die Runde.
Beim Abschied kann ich nicht anders, ich strahle sie an, diese schöne
alte Frau und sage aus voller Überzeugung: „Frau Boss, ich freue
mich, wenn wir uns nächstes Jahr wiedersehen“.
Es ist aber auch gut möglich, dass man sie schon vorher in der oberen
Fußgängerzone trifft: An guten Tagen nämlich, wenn die Sonne
scheint, setzt sich Gerda schon mal auf eine der Bänke und beobachtet
die Umgebung mit ihren blauen Augen, die so viel mehr gesehen haben,
als die meisten von uns.
Redakteur/in:Montserrat Manke |
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