In Gedenken an Helga Rost 7.12.1944-15.3.2023
Das Rentier auf dem Balkon
Wesseling. Im März 2023 ist im Alter von 78 Jahren nach schwerer Krankheit Helga Rost gestorben. Von Anfang an gehörten ihre Lesungen zu den Wesselinger Lichtern. Hoppel Grassmeier vom RheinKlang 669 Team erinnerte bei den 6. Wesselinger Lichtern an die Buchautorin und Journalistin, Trägerin der Kulturplakette der Stadt Wesseling, Organisatorin der regelmäßigen Weihnachtsmatineen mit Helmut Ritter und dem Kammerchor Cantamus... Die Gäste gedachten der Künstlerin und legten eine Schweigeminute ein.
Im letzten Jahr hatte sich Helga Rost sehr gefreut, dass ich ihr Gedicht "Anblick eines Krieges", das sie sowohl bei den 5. Wesselinger Lichtern als auch in der Weihnachtsmatinee 2022 gelesen hatte, im LeserPortal der Rheinischen Anzeigeblätter veröffentlicht hatte. Und es wurde sogar im Werbekurier abgedruckt. Zum Dank hatte sie mir zu Weihnachten diese Geschichte geschickt:
Das Rentier auf dem Balkon
Helga Rost
Als Herr Peters am ersten Advent aufwachte, traute er seinen Augen nicht. Auf seinem Balkon im achten Stock stand ein junges weißes Rentier mit wolligem Fell, zupfte vorsichtig ein paar Petersilienstängel aus dem Kräuterkasten ab und zerkaute sie mit genüsslicher Andacht. Herr Peters war ein besonnener Mann und beschloss, sich erst einmal zu duschen und warm anzuziehen, bevor er weiteres unternahm. Eine erste Schneedecke hatte sich nachts auf die Landschaft gelegt, die ordentliche Kälte versprach. Als sich das herrliche, heiße Wasser über ihn ergoss, fragte er sich, ob er gerade geträumt hatte. Wie kam das Tier auf einen so hohen Balkon? Sicher hatten sich seine bereits erwachsenen Kinder beim letzten Besuch einen Scherz erlaubt und ein Plastikvieh installiert, das sie jetzt über Fernbedienung in Bewegung gesetzt hatten. Herr Peters schüttelte die Hirngespinste ab, während er sich mit dem Handtuch trocken rubbelte. Dann schaute er vorsichtig durchs Badezimmerfenster. Das Rentier war noch da und knabberte gerade das zweite Kräuterbüschel ab.
Dick eingemummelt schlich sich Herr Peters auf den Balkon, damit er das Tierchen nicht verscheuchte.
„Was für ein Quatsch", murmelte er, „wo soll es denn hin? Kann doch nicht fliegen." „Doch", antwortete das Rentier, „kann ich wohol."
Herrn Peters fiel die Kinnlade herab. Er inspizierte den Balkon, wo sie denn den Lautsprecher angebracht hatten.
„Was suchst du, Onkel?", fragte indes das Tier.
„Ach, hör doch auf, kannst ja gar nicht sprechen", beruhigte er sich selber. Das Rentier antwortete: „Kann ich wohol."
Herr Peters wurde energisch: „Kannst du nicht. Außerdem gibt es dich gar nicht. Basta!"
Das weiße Wollknäuel protestierte: "Wohol!"
,Also, wenn du schon sprechen kannst, dann erzähl mal, wo du herkommst." Das Tierchen reagierte nicht und machte sich über die Zitronenmelisse her. Herr Peters gab nicht auf: „Hey, ich will jetzt wissen, wo du herkommst."
„Deine Wiese schmeckt aber lecker", lenkte das Wollknäuel ab.Herr Peters stellte die gleiche Frage anders: „Wo wohnst du denn?"
Es hob den Kopf zum Himmel: „Da oben."
„Also im Hochhaus gegenüber. Und wem gehörst du?" bohrte Herr Peters weiter. Das Knäuel: „Dem Niko."
„Wie heißt der Niko denn sonst noch so?" wollte Herr Peters wissen.
„Den kennt doch jeder. Der heißt Herr Laus", gab das Rentier zurück.
„Also Herr Niko... Laus. Nee, nie gehört von dem", Herr Peters begann schrecklich zu frieren.„Hast du noch Verwandte?" Er wunderte sich sehr über diese soeben von ihm höchstpersönlich gestellte saudumme Frage. „Jetzt dreh ich ganz durch", dachte er und trat von einem Fuß auf den anderen, denn die Kälte nahm noch mehr zu in der luftigen Höhe. „Frierst du auch?" fragte er.
„Nö", erwiderte das Rentier, „hab doch noch Babyfell."
„Ach, so klein bist du noch", wunderte sich Herr Peters und weiter, „wie heißt du denn?"
„Kleines", antwortete das Babyfell.
„Kleines ist doch kein Name. Hast du keinen richtigen Namen so wie Klaus oder Peter oder Rolf?"
„Manchmal sagen Mama und Papa auch kleines Ferkel zu mir, wenn ich mit der Milch rumkleckere", gab das Rentier zu.Herr Peters rieb sich Stirn und Augen. „Ich glaub's einfach nicht. Steht ein Rentier auf meinem Balkon, heißt kleines Ferkel, kann sprechen und fliegen", fasste er zusammen, um Klarheit ins Geschehen zu bringen. „Und was machen deine Eltern so beruflich?" hörte er sich fragen.
„Hä?" fragte Kleines zurück.
„Was macht dein Papa zum Beispiel den ganzen Tag?"
„Mein Papa leitet einen Schlittentreck", antwortete das Rentierchen stolz und streckte alle vier Beinchen durch. Inzwischen war der Kräuterkasten abgemäht, und es machte sich an die roten Lampionblumen.
„Und deine Mutter?"
„Was, meine Mutter?"
„Was macht deine Mama den ganzen Tag lang, wenn sie nicht grade in der Küche steht und Erbsensuppe kocht?" Herr Peters ließ nicht locker. Schließlich war er Rundfunkreporter und hatte Übung im Fragen.
„Meine Mama kann schön singen und tanzen", schwärmte Kleines und hielt für einen Augenblick mit Fressen inne.
Jetzt setzte Herr Peters seine ganze Gemeinheit ein: „Bist du nicht traurig, dass deine Eltern nicht bei dir sind?"
„Nö, die holen mich beim Rückflug wieder ab", gab der kleine Fresssack schmatzend zurück.„Machst du so was schon mal öfter?" fragte Herr Peters.
„Was?", fragte das Rentier.
„Na, ausbüchsen", erklärte Herr Peters.
Kleines zog den Kopf zwischen die Schultern. „Manchmal, wenn der Balkon schön grün ist", gab es kleinmütig zu. Dann hob es plötzlich lauschend den Kopf und ging zur Gegenfrage über: „Hast du eigentlich eine Tante, Onkel?"
„Du meinst ,eine Frau'?" korrigierte Herr Peters.
Kleines nickte.
„Ja", sagte Herr Peters.
„Wo isse denn?"
„Sie schläft noch."„Geh die doch mal wecken", schlug Kleines vor.
„Eigentlich hast du recht", sagte Herr Peters und schlug sich auf die Stirn, „Dass mir das nicht früher eingefallen ist. Dann hab ich wenigstens einen Zeugen. Das alles glaubt mir doch kein Mensch." Er machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer. „Martina, Liebling, aufstehen!"
Frau Peters reckte und streckte sich. „Ist das Frühstück schon fertig?", fragte sie noch mit geschlossenen Augen und gähnte herzhaft.
„Oh, n..nein, n...noch nicht. Aber du musst dir das mal anschauen. Bei uns steht ein Rentier auf dem Balkon", stotterte er.
„Schon so witzig vor dem Frühstück", murmelte sie, schlug die Augen auf und sah ihren blau gefrorenen Mann an, „Und schon so blau am frühen Morgen. Hauch mich mal an, Carsten."
„Mensch ich sag dir doch. Ich steh seit einer Stunde auf dem Balkon und rede mit dem Rentier".
„So? Mit dem Rentier? Kannst du denn Rentierisch?", fragte sie.
„Das Rentier spricht deutsch."„Das muss ich mir mal anhören", Frau Peters zog ihren Bademantel über und stakte in die Küche. „Wo ist er denn, dein Elefant, Entschuldigung, dein Rentier?"
„Na, da, auf dem Balkon", erwiderte ihr Mann.
„Ich seh nix", sie drehte sich zu Herrn Peters um und legte ihre Hand auf seine Stirn. „Kein Wunder", sagte sie, ,,du hast ja Fieber. Mein Gott, was stehst du denn auch wie blöd auf dem Balkon herum?"
„Na, weil ich mich doch mit dem Rentier....". Herrn Peters versagte die Stimme. Er verstand sich selber nicht und hoffte, irgendwie Klarheit in die ganze Sache bringen zu können.An den nächsten Adventssonntagen stand er schon früh am Küchenfenster und wartete mit der Digitalkamera auf die Wiederholung eines Ereignisses, an das er eigentlich selbst nicht mehr glaubte. Aber ein Phänomen hatte ihn gepackt und ließ ihn nicht mehr ruhig schlafen. Er zermarterte sich das Gehirn wie ein Kriminalkommissar über einen komplizierten Fall und stellte sich immer wieder die gleiche Frage: „Wenn es kein Rentier auf dem Balkon gegeben hat, wie kam es dann zu dem abgemähten Kräuterkasten und wo waren die Lampionblumen geblieben?"
Am 17. Dezember 2023 um 11 Uhr ist eine Adventsmatinee mit dem Chor Cantamus im Rheinforum Wesseling. Unter der Leitung von Guido Wilhelmy lädt der Kammerchor ein, sich mit Liedern und Geschichten auf das Weihnachtsfest einstimmen zu lassen:
Advent - Zeit der Vorbereitung, Advent - Zeit für Geschichten, Advent - Zeit zum Singen!
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